
Am Bucheggplatz steht ein Wickeltisch

Wenn sie erst grösser sind, die Kleinen, dachte ich einst. Wenn sie nicht mehr vom Wickeltisch kullern, sich in keine Kordeln mehr verwickeln, nicht mehr sorglos auf die Strasse wackeln, dann brauche ich mich nicht mehr zu fürchten.
Kurz vor dem Einschlafen formen sich in meinem Kopf manchmal ungefragt Szenen, die alle dieselbe Überschrift tragen: «So hätte es auch ausgehen können.» Ich stelle mir dann beispielsweise vor, wie ich am Nachmittag an der Tankstelle vergessen hätte, meinen Buben wieder in seinem Sitzchen festzuschnallen. Er wäre aus dem Wagen geklettert und sorglos auf die Ausfahrt zu gekrabbelt. Ein paar Schritte weiter hätte einer den Zündschlüssel gedreht und das Gaspedal gedrückt und dabei mein Kind übersehen. Einmal weckte ich nachts weinend meinen Mann, weil ich im Traum durch klarstes Wasser hindurch in einen Meeresgrund geblickt hatte, der sanft den Pyjama unseres Sohnes wiegte.
Wären sie schon grösser, dachte ich früher dann. Könnten stehen, könnten laufen, könnten warte, luege, lose, laufe.
Aber das Auto, das mein Kind überfahren kann, wird irgendwann zum Auto, das mein Kind selbst fährt.
Sorge ich mich heute, dass es sich versehentlich einen Zigarettenstummel in den Mund steckt, fürchte ich morgen, dass es das eines Tages absichtlich tut. Das verdammte Erdnüsschen, an dem mein Baby ersticken könnte, es verwandelt sich in die giftige Beere, die der Sohn nicht von den Früchten des Holunderstrauches zu unterscheiden weiss, es hat die Form des Kügelchens, das irgendeiner deiner Tochter vor der Klubtoilette hinstreckt, der Tablette, ohne die sie nicht mehr einschlafen kann.
Die Badewanne. Wird Planschbecken, wird Teich, wird Fluss, der zerrt, wird Meer, das Wellen an gezackte Felsen schleudert, wird zu einem See, der keinen Meter tief geht an der Stelle, wo der Sohn zum Kopfsprung ansetzt.
Und haben wir auch das Kind kein einziges Mal unbeaufsichtigt auf dem Wickeltisch liegen lassen. Eines Tages rast das Herz, weil wir gerade noch rechtzeitig sehen, wie das Töchterchen seinen Badeschemel zum Balkon schiebt, um nach dem Büsi unten im dritten Stock zu sehen. Und dann steht man irgendwann müde am Bucheggplatz, der Blick geht den Betonzylinder hoch, der dort Haltestelle mit Brücke verbindet, und oben auf dem schmalen Aluminiumgeländer steht ein Schlaks. Derart selbstverständlich, als könnte ein falscher Schritt zwar allen anderen das Genick brechen, ihm aber sicher nicht; recht mühelos zieht er sich hoch und hält dem nächsten die Hand hin, bis alle Schlakse auf dem dünnen Dach stehen. Kurz lassen sie den Blick schweifen über die Welt, derer sie gerade Herr geworden sind, dann reisst einer eine Packung Chips auf.


Journalistin und Mutter von zwei Söhnen, beides furchtbar gerne. Mit Mann und Kindern 2014 von Zürich nach Lissabon gezogen. Schreibt ihre Texte im Café und findet auch sonst, dass es das Leben ziemlich gut mit ihr meint.<br><a href="http://uemityoker.wordpress.com/" target="_blank">uemityoker.wordpress.com</a>