
Meinung
«Every Day Carry»-Neurose: Mein Rucksack ist voller Dinge, die ich fast nie brauche, aber immer dabeihaben will
von Thomas Meyer
Seit ungefähr acht Jahren trage ich regelmässig Anzüge. Nicht nur für Auftritte, sondern auch im Alltag. Das macht mir viel Freude – und auch manch anderen.
«Hast du heute noch einen wichtigen Termin?»
«Ja, jetzt, mit dir!»
«Oh!»
Dieser kleine Dialog findet oft statt, wenn ich jemanden treffe und dabei einen Anzug trage (Corona-Edit: Wenn ich jemanden traf und einen Anzug trug). Die Wertschätzung, die von dieser Garderobe ausgeht, wird zwar sofort wahrgenommen, aber auf eine andere, wohl wichtigere Person beziehungsweise Zusammenkunft bezogen. Umso freudiger reagieren die Menschen, wenn ich ihnen mitteile, dass ich mich allein ihretwegen in Schale geworfen habe.
Das ist der erste Grund, warum ich gern Anzüge trage: um meinen Mitmenschen zu zeigen, dass sie mir wichtig sind. Ein Anzug verkündet: «Du bedeutest mir etwas. Darum gebe ich mir Mühe für dich. Beim Benehmen, bei der Wortwahl und bei der Kleidung.»
Ein Anzug ist ein stummes Kompliment. An den Menschen, mit dem man sich trifft, aber auch an alle anderen, denen man draussen begegnet, und die dem Anblick, den man ihnen zumutet, wehrlos ausgeliefert sind. So fühle ich mich jedenfalls, wenn ich im Tram sitze und eine Person reinkommt, die ihre Garderobe sichtlich nur nach den Kriterien «Will nicht frieren!» (Winter) bzw. «Kann halt nicht nackt rumlaufen!» (Sommer) ausgewählt hat.
Übrigens muss es nicht immer ein kompletter Anzug sein. Eine schöne Hose und ein schönes Hemd sind meist schon Kompliment genug. Bei meinen Auftritten trage ich aber immer einen Anzug, als Zeichen der Ehrerbietung meinem Publikum gegenüber, das extra meinetwegen gekommen ist – und mich eine Stunde lang anschauen muss, während ich vorlese. (Corona-Edit: Ich trug einen Anzug, als ich noch Auftritte hatte.)
Kleider machen Leute, heisst es, und wie wahr das ist, merkt man, wenn man in einen massgefertigten Anzug steigt. Es fühlt sich einfach besser an: Man sitzt anders darin, man steht anders darin, man geht anders darin, man verhält sich anders darin. Man drückt sich sogar gewählter aus und trifft die besseren Entscheidungen – einfach, weil alles ein bisschen wichtiger ist, wenn man einen Anzug trägt. Am meisten man selbst.
Folgendes Szenario: Ich spaziere durch die Stadt, und jemand fährt mich über den Haufen. Und dann liege ich da in meinem Blut, blicke in die ernsten Gesichter der Notfallkräfte und denke: «Verdammt, ich trage alte Jeans und eine Outdoor-Jacke. Auch das noch.»
Ein unerträglicher Gedanke, schlecht angezogen zu sterben! Auch deshalb trage ich Anzüge: Weil jeder Tag mein letzter sein könnte. Bisher waren alle vergangenen Tage zum Glück einfach «gestern», aber wer weiss schon, was der Himmel für Pläne hat. Man muss jederzeit für alle Fälle gerüstet sein (siehe unten, Text über EDC), und der eigene Tod gehört leider dazu. Ich rechne nicht so bald mit ihm, aber das tun die meisten nicht, und ich will nicht schlampig vor meine/n Schöpfer*in treten.
Ich mache meine Anzüge bei Tailor’s Project in Zürich. Mensur und Kevin, die beiden Inhaber, waren früher bei Pelikamo, wo ich auch immer noch gern hingehe, und haben sich Ende 2019 selbständig gemacht. Mensur hat mich schon vor Jahren gewarnt: «Vorsicht, Herr Meyer. Masskleidung kann süchtig machen.» Tatsächlich gibt es so viele schöne Stoffe für Hemden, Hosen und Anzüge, dass man scharf an sich halten muss, um sich nicht zu ruinieren.
Der Kauf eines Anzuges ist ein ausgesprochen sinnliches Erlebnis. Es beginnt mit der Wahl eines Stoffes. Man enscheidet sich nicht nur mit dem Auge, sondern auch mit der Haut, fährt mit den Fingerkuppen über die Stoffmuster, schnüffelt vielleicht sogar daran, unter Mensurs leicht irritiertem Blick. Vorerst grenzt man die Auswahl auf drei, vier mögliche Stoffe ein, dann wird Mass genommen. Es gibt übrigens durchaus schöne Anzüge und Hemden, die man ab der Stange kaufen kann, aber für diese Modelle bin ich viel zu schmal, ausserdem habe ich Arme wie eine Playmobilfigur.
Als Nächstes geht es um die Details: Steigendes oder fallendes Revers? Sechs oder siebeneinhalb Zentimeter breit? Aufgesetzte Taschen oder Paspeltaschen? Vier oder fünf Knöpfe am Ärmel? Die Optionen sind zahlreich, und wenn etwas nicht gut zusammenpasst, gibt Mensur ein entsprechendes kleines Protestgeräusch von sich: «M!», macht er dann, oder: «N!» Manchmal ist es aber auch umgekehrt, und Mensur macht leise: «O!», wenn er meine Kombination für gewagt, aber raffiniert hält.
Nun kommt die Zeit des Wartens. Der Anzug wird in Tschechien produziert. Das kann bis zu sechs Wochen dauern. Nach ungefähr drei Wochen frage ich Mensur, wie lange es noch dauere, bis die sechs Wochen um seien, und er antwortet wahrheitsgemäss: Noch deren drei, Herr Meyer. Nach deren Ablauf ist es endlich soweit: Der Anzug ist da. Das vermeldet Mensur nicht mit irgendeinem öden Standard-Mail, sondern mit einem persönlichen SMS. Sofort eile ich hin, um dieses unvergleichliche, noble, selbstverwöhnende Gefühl zu geniessen, das ein neuer Anzug vermittelt. Idealerweise passt er schon perfekt, dann kann ich ihn gleich anbehalten, ansonsten sind die Änderungen in wenigen Tagen vorgenommen. Ein Zentimeter weniger am hinteren Bein kann viel ausmachen!
Am Ende spaziere ich mit meinem neuen Anzug aus dem Atelier. Vielleicht direkt vor ein Auto. Das wäre ärgerlich, weil ich gern noch eine Weile leben würde. Aber stilistisch wäre es hinzunehmen.
Wie denkst du über Mode? Welchen Zweck hat sie für dich? Zu welchen Gelegenheiten ziehst du dich hübsch an, und wie? Schreib es in die Kommentare!
Der Schriftsteller Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Er arbeitete als Werbetexter, bis 2012 sein erster Roman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» erschien. Er ist Vater eines Sohnes und hat dadurch immer eine prima Ausrede, um Lego zu kaufen. Mehr von ihm: www.thomasmeyer.ch.