

Dein Kind kommt in die Vorpubertät: Lass es los, aber nicht fallen

Dass die Pubertät herausfordernd sein kann für Eltern – geschenkt. Doch kaum jemand bereitet einen auf die Zeit davor vor: Wenn dein eben noch liebenswertes Kind plötzlich zum motzigen Pre-Teenager wird. Und im nächsten Moment dich wieder dein süßes Kind anlächelt ... Doch es gibt Hoffnung.
«Sie sind jetzt aus dem Gröbsten raus», sagen Eltern gern, wenn sie die anstrengende Baby- und Kleinkindphase mit ihrem Nachwuchs überwunden haben. Doch damit lügen sie sich in die Tasche, wage ich zu behaupten. Denn: Solange die Kids zuhause leben, hört «das Gröbste» niemals auf. Jeder neue Lebensabschnitt der Kids fordert Eltern aufs Neue heraus – und ganz besonders die Vorpubertät.
Alle reden immer davon, wie anstrengend das Leben mit Teenagern sei. Aber kein Mensch bereitet dich darauf vor, wie man mit einem Pre-Teen überlebt. Also tue ich es jetzt – mit Hilfe von Elterncoach Birgit Gattringer. Sie ist familylab-Trainerin nach Jesper Juul, diplomierte Kinder- und Jugendmentaltrainerin und betreibt mit anderen Expertinnen und Experten die Website Starkekids.
Wann beginnt die Vorpubertät und was geschieht da?
Der Übergang vom Primarschulkind zum Fast-Schon-Teenager-aber-irgendwie-doch-noch-Kind kann Erziehungsberechtigte extrem verunsichern: Eben noch war dein Kind anhänglich, bedürftig und süß, im Grunde kaum den Windeln entwachsen – und plötzlich ist es wie ausgewechselt. Mault dich an, schlägt dir die Tür vor der Nase zu oder beginnt dir jedes Wort im Mund umzudrehen. Gemeinsame Ausflüge? Laaaangweilig. Und in der nächsten Sekunde – hüpft dir dein 11-Jähriger auf den Schoß und will den Rücken gekrault haben.
Ein Teenager ist das noch nicht. Aber ein Pre-Teenager: Die Vorpubertät beginnt bei Jungen zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr, bei Mädchen meist schon ein bis zwei Jahre früher. Interessant: Im Vergleich zu den 1970er-Jahren kommen die Kinder heute ein Jahr früher in die Pubertät, wie diese Metastudie herausgefunden hat. Und damit beginnt auch die Vorpubertät eher.
In dieser Übergangszeit werden die Vorbereitungen angestoßen für die dann folgende pubertäre Großbaustelle in Hirn und Körper. Mit Folgen, weiß Expertin Gattringer: «Jungs ziehen sich dann eher zurück und werden schweigsam. Bei ihnen sind die Gefühlsausbrüche stark, sie sind oft aggressiv, und bei ihnen ist der Schlafrhythmus markanter gestört. Hingegen werden Mädchen eher gereizt und streitlustiger. Oft ist ihr Schamgefühl nun auch stärker ausgeprägt als bei den Buben.»
Auf diese typischen Wesensveränderungen können sich Eltern «freuen»: Plötzliche Stimmungsschwankungen, die Interessen verschieben sich (Tschüss, Lego und Playmobil), Freundschaften werden wichtiger, und die Kids wollen viel mehr mitreden und fordern Autonomie ein. Plus: Ihr Schlafmuster verändert sich. Weil sich langsam schon die Hormone umstellen, produziert der Körper weniger Melatonin, womit das Einschlafen schwerer fällt. Pre-Teens können abends einfach schwerer entspannen.
So hilfst du deinem Kind durch die Vorpubertät
Weil all diese Veränderungen einen angehenden Jugendlichen ganz schön verunsichern können, braucht er in dieser Zeit umso mehr seine Eltern. Worauf diese achten sollten, hat Expertin Gattringer in zehn Punkten formuliert.
1. Sei das offene Ohr für deinen Pre-Teen
«Dein Kind sollte immer das Gefühl haben: Mama und Papa haben stets ein offenes Ohr für mich – auch wenn sie mich und mein Verhalten gerade nicht verstehen. Aber sie werden mich nicht dafür verurteilen. Es geht um diese tiefe Haltung seitens der Eltern: Nimm dein Kind so an, wie es ist.»
2. Lösungen präsentieren? Nein. Aktiv zuhören? Ja
«Kannst du aktiv zuhören – oder neigst du dazu, für jedes Problem gleich eine Lösung zu kreieren? Wir Erwachsenen spüren oft diesen Druck, für alles eine Lösung haben zu müssen. Auch, weil wir damit Dinge abkürzen – und starke Gefühle vermeiden wollen wie Schmerz oder Wut. Mach es bei deinem Pre-Teen anders: Gib ihm den Raum, sich zu öffnen. Aktives Zuhören heißt: Schau dein Kind an, höre zu und nimm dich zurück. Egal, was dein Kind erzählt, es ist okay. Es darf alles bei dir abladen – Gefühle, Sorgen, Ideen, Dummheiten. Du zeigst ihm damit: Ich bin für dich da. Ich halte alles aus, auch starke oder unangenehme Gefühle. Und wenn du unbedingt auf Lösungen aus bist, entwickle sie gemeinsam mit deinem Kind. Frag es aber vorher, ob es deine Idee dazu hören möchte, statt ihm ungefragt deine Meinung überzustülpen.»
3. Geduld, Geduld und nochmals Geduld. Und noch mehr Verständnis
«Dein Pre-Teen erlebt jetzt so viele Gefühle – da braucht es von deiner Seite ganz viel Geduld und Empathie. Versuche, dich in die Welt deines Kindes hineinzuversetzen. Sag dir immer wieder: Mein Kind hat noch kein ausgereiftes Gehirn, es kann gerade nur so und nicht anders. Mit dieser Haltung einer inneren Gelassenheit kannst du es annehmen, wie es ist. Dann musst du auch nicht in den Kampf und den Konflikt treten. Denn diese Konfliktspirale, von der in der Pubertät viele Eltern erzählen, will ja niemand.»
4. Lass dein Kind los, aber lass es nicht fallen
«Gerade in der Pubertät hören Eltern den Rat: Lass dein Kind los. Das sehe ich differenzierter. Aus meiner Sicht lässt man nämlich sein Kind so in manchen Situationen allein. Ein Beispiel: Es gibt einen Konflikt zwischen euch, der Pre-Teen sagt etwas, du redest dagegen an, auf beiden Seiten regt sich der Widerstand. Was machen wir Eltern oft? Reagieren genervt mit den Worten «Ich geb‘s auf». Doch damit gibst du auch das Kind auf – und eure Beziehung. Das sollte nicht passieren. Eltern sollten loslassen, aber nicht fallenlassen. Sie müssen immer das Sicherheitsnetz für ihr Kind sein. Egal, was passiert.»
5. Lade dein Kind in die Abhängigkeit ein
«Auch mit 10 oder 12 und sogar noch mit 16 Jahren ist ein Kind abhängig von den Eltern – finanziell, häuslich, emotional. Doch in unserer westlichen Welt schieben und drängen wir die Kinder in die Selbstständigkeit, und dann geht der Schuss nach hinten los. Wieder ein Beispiel: Natürlich kann ein 12-Jähriger sein Butterbrot alleine streichen. Doch manchmal ist allein das schon zu viel für ihn. Er ist gestresst, er ist müde, gereizt – dann will er sich einfach ins elterliche Sicherheitsnetz fallen lassen. Und wenn Eltern da weich bleiben, wenn sie erkennen, was der Pre-Teen jetzt gerade braucht, dann sollten sie ihm das auch geben. Erst recht, wenn das Kind in Anspannung oder Widerstand zu dir ist, ist es kontraproduktiv, wenn du in der Wunde bohrst und sagst: Du kannst dir dein Brot aber schon selbst schmieren. Wir Erwachsenen können uns auch selbst einen Kaffee zubereiten – und gehen trotzdem ins Kaffeehaus, wo uns eine aufmerksame Bedienung den Kaffee mit Milchschaum und Keks serviert und unser Wasserglas nachfüllt.»
6. Nutze die Interessen als Brücke zum Kind
«In der Vorpubertät verändern sich die Interessen der Kinder, und nicht jede davon heißt man als Erwachsener gut. Doch je mehr man sich dagegen sträubt, desto schlimmer wird es. Dann gehen die Pre-Teens erst recht in den Widerstand, und dann habt ihr nur noch Streit und Konflikte. Deshalb rate ich Eltern: Bleibt dran und redet mit euren Kindern über ihre Interessen. Das muss immer von euch ausgehen. Auch wenn du dem Computerspiel oder der neusten Social Media Challenge nichts abgewinnen kannst – zeige echtes Interesse daran, was dein Kind gerade beschäftigt. Du kannst auch hinterfragen, was genau ihm daran gefällt. Dann spürt dein Kind: Mama oder Papa sehen mich, sie erkennen, wer ich gerade bin. Egal, wie komisch seine Vorliebe auch gerade ist, seine Interessen sind die Brücke zu ihm. So bleibst du mit deinem Kind in Verbindung, und darum geht es.»
7. Respekte die jugendliche Privatsphäre
«Es gibt Eltern, die reden schlecht über das Kind – und das sitzt keine drei Meter entfernt. Das sollte nicht passieren. Genauso wenig, wie ein Elternteil Dinge, die dem Pre-Teen passiert sind, über dessen Kopf hinweg anderen Familienmitgliedern berichtet. Frag also dein Kind: Möchtest du Papa davon erzählen? Oder wenn ihr als Eltern ein wichtiges Thema ansprechen wollt, fragt erst einmal nach: Bist du bereit, jetzt darüber zu reden? Ein «Nein» gilt es in diesem Moment zu respektieren – doch wieder mit der Haltung «Loslassen, nicht fallenlassen». Wir Eltern dürfen uns nicht verziehen, sondern müssen bei der nächsten Gelegenheit wieder das Gespräch mit dem Kind suchen. So zeigen wir ihm, was uns wichtig ist und worüber wir Vereinbarungen treffen wollen.»
8. Gerade weil es ihn in die Welt hinauszieht, braucht dein Pre-Teen deinen sicheren Hafen
«Pre-Teens schwanken nicht nur in ihren Stimmungen und Gefühlen, sie schwanken auch zwischen den Polen «Ich brauche viel Nähe» und «Ich will in die Welt gehen». Sie beginnen sich immer mehr mit sich selbst auseinanderzusetzen und interessieren sich zugleich mehr für die Außenwelt. Eltern dürfen sie daher immer wieder in die Nähe einladen. Das kann ein Gespräch sein, eine Umarmung oder gemeinsames Spielen oder Kochen. Die Kinder dürfen bei den Eltern auftanken. Auch wenn sie sich im nächsten Moment wieder in ihr Schneckenhaus zurückziehen wollen.»
9. Mitgestalten, mitentscheiden: Animiere dein Kind dazu
«In der Vorpubertät fordern Kinder mehr Autonomie ein, aber auch mehr Mitbestimmung – und die kannst du ihnen geben: Hole bewusst die Meinung deines Pre-Teens ein und respektiere diese. Lade dein Kind auch dazu ein, mitgestalten zu dürfen. Überlegt zum Beispiel gemeinsam, welche Ausflüge ihr plant oder wohin es in den nächsten Urlaub geht.»
10. Akzeptiere, dass sich deine Elternrolle verändert
«Kinder sind die größten Lehrmeister für unsere eigene Persönlichkeitsentwicklung. Das gilt auch und gerade in der Vorpubertät. Dass sich die Beziehung verändern darf, ist eine spannende Erfahrung: Weg von der engen Nestwärme hin zu mehr Freiheit – auch für die Eltern. Bislang war es eure Rolle, die Alphatiere in der Familie zu sein. Im Zusammenleben mit Pre-Teens verändert sich das. Nun werdet ihr zu Sparringspartnern. Dazu gehört auch, sich aneinander zu reiben und maximalen Widerstand zu erleben – jedoch immer mit Wohlwollen. Trifft euer Kind Entscheidungen, die ihr nicht gutheißt? Dann äußert eure Meinung und überlasst es dem Kind, was es mit dieser Meinung anfängt. Läuft die Sache dann schief, verurteilt nicht, sondern geht gemeinsam in die Reflexion, was der Pre-Teen beim nächsten Mal anders und besser machen kann.»
Titelfoto: shutterstock

Ich hätte auch Lehrerin werden können, doch weil ich lieber lerne als lehre, bringe ich mir mit jedem neuem Artikel eben selbst etwas bei. Besonders gern aus den Themengebieten Gesundheit und Psychologie.