Hintergrund

Die hohe Kunst des Wartens

Die Jagd – nirgends in der Schweiz ist sie so stark verankert wie im Kanton Graubünden. Sie gehört zum Bündnerland wie Läckerli zu Basel. Eine Spurensuche.

Ein Knall von der anderen Talseite durchschneidet die klare Bergluft. Kaliber 10.3 Millimeter. Stille. Zum Vergleich: Das Sturmgewehr 90 der Schweizer Armee verschiesst Patronen des Kalibers 5.56 Millimeter. Wir gehen weiter, ein mulmiges Gefühl in der Magengrube macht sich breit. Ich begleite Claudio, Marco und Marc auf der Jagd. Hier im Bündnerland ist sie eine fest verankerte Tradition. Rund 5 500 Jäger sind in diesen Wochen im Kanton unterwegs. Das Jagdfieber geht vom Vater zum Sohn, vom Onkel zum Neffen. Nicht hinter jedem Baum sitzt ein Jäger, aber hinter jedem zweiten. Und wartet auf sein «Stück», wie das Wild in der Jägersprache heisst.

Marco und Claudio, zwei Bündner Jäger.
Marco und Claudio, zwei Bündner Jäger.

Die Bündner Hochjagd

Die hohe Kunst des Jagens, das wird mir schnell klar, müsste eigentlich die hohe Kunst des Wartens heissen. Wir kraxeln den Schamserberg an der südöstlichen Flanke des Piz Beverin hoch und spiegeln mit den Ferngläsern immer wieder das Terrain um uns herum. Gehen, warten, beobachten, gehen, warten. Bis wir schliesslich Halt machen. Die Luft ist erfüllt vom Pfeifen der Murmeltiere. Auch «Mungga» dürfen geschossen werden. 4 640 waren es letztes Jahr.

Wir beobachten das Murmeltier. Es beobachtet uns.
Wir beobachten das Murmeltier. Es beobachtet uns.

Claudio, Marco und Marc halten neben Murmeltier vor allem nach Reh, Hirsch und Gämse Ausschau. Was, wann, wie und wo geschossen werden darf, ist gesetzlich streng geregelt. Wer sich nicht daran hält, zahlt eine Busse oder verliert sein Patent. Im Kanton Graubünden wird die Patentjagd praktiziert. Mit dem Lösen des Jagdpatents, kann auf dem gesamten Kantonsgebiet, ausser in Wildschutzgebieten, gejagt werden. Viele andere Kantone kennen die Revierjagd. Dort hat eine Gruppe von Jägern ein zugewiesenes Revier, in dem nur sie jagen darf.

«Schaut mal, der hat die Hosen unten und schifft einfach in unsere schöne Bündner Berglandschaft.» Claudio hat einen Wanderer ausgemacht, der sein Geschäft verrichtet. Die Feldstecher gehen hoch. Wenn der gute Mann wüsste, dass ihm gerade acht Augen aus 200 Metern beim Pinkeln zuschauen.

I know what you did last fall.
I know what you did last fall.

Reger Betrieb am Berg

Der eine uriniert, die andere spaziert mit ihrem Hund am Berg. Als nächstes kommt ein Motorrad den Hang hinunter. Es ist was los hier auf 2000 Meter über Meer. «Am Wochenende wird's dann so richtig voll», meint Claudio. Der Zeigefinger bleibt lang und ist nicht am Abzug. Geschossen wird hier und heute nicht. Nach zwei Stunden machen wir uns unverrichteter Dinge auf den Rückweg zur Hütte. Die hohe Kunst des Wartens halt.

Auf halbem Weg kommen wir an einem Abhang mit hohen Büschen vorbei und bleiben stehen. Am Vortag haben die Jäger hier Rehe ausgemacht. Claudio schlägt vor, dass Marc und ich als Mitläufer zusammen in das Gelände gehen, rund 200 Meter den Berg hochklettern und ein bisschen aufs Unterholz klopfen. Durch dieses «Drücken» wird Wild, das sich vielleicht dort versteckt, aufgescheucht. Links und rechts davon postieren sich Claudio und Marco.

In Position, Finger lang.
In Position, Finger lang.

Jetzt wird mir klar, weshalb jeder Jäger mindestens ein knalloranges Ausrüstungsteil dabei hat. Es unterscheidet den Treiber vom Wild und dient somit der Sicherheit. Claudio leiht mir seine orange Mütze. So bin ich für ihn und Marco gut sichtbar. Dann geht's los. Es ist steil, die Büsche sind mannshoch und höher, ich verliere schon nach wenigen Schritten die Orientierung. Ich soll im Zickzack gehen, bis zu einem markanten Felsen. Keine Ahnung, wo ich bin. Keine Ahnung, wo ich hin muss. Bitte nicht schiessen, schiesst es mir durch den Kopf. Mein rechter Fuss hat sich im dichten Wurzelwerk verfangen und es haut mich beinahe den Hang hinunter. Mein ohnehin schon lädiertes Knie beginnt wieder zu schmerzen. Ich will hier raus. Nach einer halben Stunde bin ich wieder unten bei Marco. Reh? Fehlanzeige. Falls sich doch eines dort versteckt hat, habe ich es übersehen. War zu sehr mit mir selbst beschäftigt.

«Hast du die Gämse pfeifen gehört und den Rehbock schrecken?», fragt mich Marco. Ja, hab ich. Allerdings hielt ich das Pfeifen für einen Vogel und das, was Marco «schrecken» nennt, für Hundegebell. Der Städter aus dem Unterland hat keine Ahnung, was hier abgeht. Marco klärt mich auf. Die Gämse oben am Berg hat sich durch meine Anwesenheit gestört gefühlt und mir mit dem Pfeifen mitgeteilt, dass ich mich doch bitteschön verpfeifen möge. Und das Hundegebell? Wenn sich Rehe gestört fühlen, machen sie ein Geräusch, das ungeübte Ohren für einen Hund halten. Auch meine Augen sind ungeübt, das Wild bleibt ihnen verborgen.

Sie scheint zu sagen: Du hast hier nichts zu suchen.
Sie scheint zu sagen: Du hast hier nichts zu suchen.

Und dann steht sie plötzlich da. Die Gämse. Auf dem Bergrücken über uns und schaut zu uns herunter in die Senke. Das perfekte Postkartensujet. Ich bekomme Gänsehaut und fühle mich für einen Moment im Angesicht dieser Erhabenheit klein. Den Rest des Weges zurück zur Hütte lassen Claudio, Marco und Marc den Tag Revue passieren. Ich bin still und nehme die Bergwelt in mich auf.

Ohne Worte.
Ohne Worte.

Von wegen Nachhaltigkeit

Kindheitserinnerung. Wenn Papa Wild kocht. Der Duft von Rotwein und frischem Wild hängt in der Wohnung. Wir sind zurück in der Hütte. Heute hat Marco gekocht. Es gibt Rehragout mit Spätzli. Derselbe Duft. Wir essen bei Kerzenlicht. Es ist schon fast kitschig gemütlich. Das mulmige Gefühl von heute Nachmittag ist einer wohligen Wärme in der Magengegend gewichen.

Marco und Marc erzählen von der Jagd im letzten Jahr und wie sie das Reh, das wir heute essen, erlegt haben. Die beiden erinnern sich an jedes Detail. Wie das Wetter war, wo sie das Reh schossen und wie lange es dauerte, das Tier zu bergen. Das hätte ich nicht gedacht. «Wir wissen von jedem Stück Fleisch, das wir das Jahr über essen, von welchem Tier es stammt und wie die Jagd damals verlief», fährt Marc fort.

Marco und Marc beim Candle-Light-Dinner.
Marco und Marc beim Candle-Light-Dinner.

Unversehens sind wir beim Thema Ethik und Nachhaltigkeit angelangt. Claudio hat hier eine klare Haltung. Er sagt: «Ich weiss, dass die Jagd umstritten ist. Ich weiss, dass ich ein Tier töte, wenn ich den Finger krumm mache und abdrücke. Und Töten an sich gibt mir keine Befriedigung. Aber: Dieses Tier war nie eingesperrt. Es wurde nicht gemästet oder mit Antibiotika behandelt. Es wurde nicht durch halb Europa zum Schlachter gekarrt oder litt Todesangst, bevor es starb. Ich esse nur Fleisch, das ich selber geschossen habe. Und zwar ausschliesslich. Das ist für mich nachhaltig lokaler Biofleisch-Konsum.»

Später liege ich im Schlafsack und denke über Claudios Worte und meinen eigenen Fleischkonsum nach. Ich bin da ziemlich widersprüchlich unterwegs. Einerseits bin ich froh, dass wir heute kein Tier erlegt haben. Bin diesbezüglich ein Weichei. Andererseits habe ich Marcos Rehragout nach einem langen Tag mit Heisshunger gegessen. Einerseits kaufe ich zu Hause Fleisch beim lokalen Biobauern, wo ich die Kuh beim Namen kenne und weiss, wie sie gelebt hat. Andererseits greife ich auch immer mal wieder in der Kühltruhe im Supermarkt zu. Aber egal, wie ich es drehe und wende: Ein Tier musste sein Leben für mich lassen. Dass sich meine Frau und Tochter vegetarisch ernähren, macht die ganze Sache nicht einfacher. Ich bin in einem Zwiespalt. Und müde. Zeit, die Gedanken loszulassen. Gute Nacht.

Warum jagt der Mensch heute noch? Im zweiten Teil der Galaxus Jagd-Reportage versuche ich, darauf eine Antwort zu finden. Folge hier meinem Autorenprofil und verpasse sie nicht.

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Vom Radiojournalisten zum Produkttester und Geschichtenerzähler. Vom Jogger zum Gravelbike-Novizen und Fitness-Enthusiasten mit Lang- und Kurzhantel. Bin gespannt, wohin die Reise noch führt.


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