
Hintergrund
Keiner mag den letzten Samichlaus
von Michael Restin
Ein Tor in der Tiefe. Ein Ball, der fast schwebt. Unterwasser-Rugby ist schwerelos und sauschwer, hochintensiv und merkwürdig still. Ein faszinierender Sport, der die Sinne verwirrt. Zumindest meine.
Es ist Fütterungszeit im Aquarium. So fühlt es sich an. Piccolo, Sabine, Adi, Hitch und die anderen schiessen wie hungrige Haie um mich herum. Sie kämpfen aber nicht um einen Futterklumpen, sondern um den mit Salzwasser gefüllten Ball. Der muss ins Tor des Gegners, das nicht wie ein Tor aussieht. Es ist ein massiver Metallkorb, der in fünf Meter Tiefe auf dem Grund des Sprungbeckens im Hallenbad Oerlikon steht. Seine zerfledderte Bandage zeugt davon, dass es beim Unterwasser-Rugby beherzt zur Sache geht.
Für mich ist da unten die Todeszone. Ich halte es nur kurz dort aus, bevor die Luft knapp wird. Meist treibe ich wie eine träge Meeresschildkröte darüber, bin ganz nah dran am Geschehen und manchmal, für einen Moment, mittendrin.
Als Anfänger ist es gar nicht so einfach, in dieses Spiel zu finden. Zu wenig Sauerstoff, zu viele Fragen im Kopf. Was mache ich hier? Wo soll ich hin? Was wollte ich? Ach ja, Luft. Atmen. Gedanken sortieren. Gut, dass Sabine oben im Video die Sportart erklärt. Tauch mal ein, es lohnt sich. Willkommen beim USZ Zürich.
Widersprüchlich und interessant ist es beim Unterwasser-Rugby von Anfang an. Wenn dir ein Mann wie ein Baum die Hand drückt und sich als «Piccolo» vorstellt, fragst du dich unwillkürlich: Wer kommt da noch?
Es ist zum Glück keine Horde riesenhafter Kampfschwimmer, die nach und nach eintrudelt, sondern eine bunte Mischung aus Jungen und Alten, Männern und Frauen. Die einen stämmiger, die anderen wendiger. Unter Wasser sind zwar nicht alle gleich, aber die Unterschiede verschwimmen ein wenig. Schläge werden gedämpft, rohe Kräfte gebremst.
Trotzdem sehen Piccolos Hände so aus, als hätte er einer Horde hungriger Katzen den Futternapf geklaut. Kratzer überall. «Kurze Fingernägel sind gut, sonst passiert sowas», sagt er augenzwinkernd. Die hatten bei der Schweizer Meisterschaft wohl nicht alle. Aber den Titel hat er sich mit seinen Teamkollegen gekrallt.
Beim Meister trifft sich kein elitärer Zirkel von Freaks, Neulinge wie ich sind im Training willkommen. Unterwasser-Rugby ist ein Sport für alle, die abtauchen wollen und Ballspiele mögen. Oder, wie Piccolo sagt: «Ein perverser Teamsport in vier Dimensionen!» Er muss es wissen, schliesslich ist er schon seit 25 Jahren im Verein. Damals war er der kleinere von zwei Marcels und ist bis heute «Piccolo» geblieben. Sein Fachwissen ist allerdings grande.
Dass sich die Spieler in drei Dimensionen bewegen, macht Unterwasser-Rugby schon ziemlich einzigartig. Von Harry Potters Quidditch mal abgesehen. Aber was hat es mit der vierten Dimension auf sich? «Das ist die Luft», sagt Piccolo und führt die Hand an den Hals. Die Luft die dir bleibt, schenkt dir Zeit. Deinen persönlichen Spielraum, in dem du etwas bewirken kannst. Im Grunde ist der Sport eine endlose Abfolge persönlicher Game Overs, die von den Mitspielern kompensiert werden müssen. Keine Luft? Keine Chance.
Teambesprechung. Wir tragen blaue Wasserball-Badekappen mit Ohrschutz und gleichfarbige Klett-Armbänder, um im Gewirr der Gliedmassen den Überblick zu behalten. Freund blau, Feind weiss.
Die anderen sehen aus wie eine Spezialeinheit der Marines. Mehrfach fixierte Taucherbrillen, abgesägte Schnorchel, Karbon-Flossen, die Speed versprechen. Ich bin der Prototyp eines Touristen, der Fische gucken will. Weite Shorts, quietschgelbe Ausrüstung. «Wir sind zu fünft – und haben noch ihn», höre ich, als wir vor dem Trainingsspiel am Beckenrand hängen.
Halb lachend, halb zustimmend schnaube ich durch meinen Schnorchel und rücke die Brille zurecht. Stimmt. Ich würde auch nicht auf mich zählen. Dieses Spiel wird die meiste Zeit unter meinem Niveau sein. Räumlich gesehen.
Wohin mit mir? Ich werde zum Stürmer erklärt. Lieber einen, der regelmässig an die Oberfläche stürmt und Luft schnappt, als eine löchrige Defensive. Die anderen beiden Positionen sind keine Option.
Da ist der Goalie, der vor dem Tor liegt und Angreifer abhält. Und als letzte Instanz der «Deckel», der mit dem Hintern über dem Korb Gegentreffer verhindert. Arsch auf Eimer. Das tönt lustig und sieht auch so aus, ist aber Schwerstarbeit. Denn am Tor darf sich keiner festhalten und die Gegner drücken, schieben, zerren sich ihrem Ziel entgegen.
Insgesamt spielen sechs gegen sechs. Zwei Spieler teilen sich eine Position und müssen darauf vertrauen, dass der jeweils andere zur Stelle ist, wenn die Luft knapp wird. Ihre Atempausen müssen koordiniert sein. Schlechte Nachrichten für Sabine. Sie stürmt mit mir.
«Schau einfach, was geht», sagt sie noch. Dann tauchen wir ab. Richtung Ball, der in der Mitte auf dem Beckengrund wartet. Das Spiel beginnt. Ich bestaune zappelnde Arme, Körper und Beine. Druck habe ich nur auf den Ohren, Erwartungen an mich sind nicht vorhanden. Alles kann, nichts muss. Ich versuche, irgendwie in Sabines Nähe zu bleiben. Das ist schwierig genug.
Und dann kommt auf einmal der Ball, der sich überraschend gut passen lässt, zu mir. Bis eben fand ich es von Vorteil, dass nur der ballführende Spieler festgehalten werden darf. Jetzt nicht mehr. Ich höre nur mein überraschtes Röcheln und sehe einen kleinen Ausschnitt des Beckens, vom Rahmen meiner Taucherbrille begrenzt. Gepackt werden kann ich von überall. Vor mir ist nur verschwommenes Blau, viel freies Wasser. Es wäre ein guter Moment, um anzugreifen.
Könner würden jetzt beschleunigen, die Gunst der Sekunde nutzen. Ich drehe mich einmal um die eigene Achse und spiele einen überhasteten Pass, bevor es mich an die Oberfläche zieht. Ist der Ball angekommen? Keine Ahnung. Immerhin wurde ich nicht in die Mangel genommen.
Mit jedem Tauchgang fühlt es sich ein kleines bisschen besser an. Ich komme der Sache näher, spüre den Rhythmus. Werde von Flossen und Körpern getroffen, die sich ihren Weg nach oben oder unten bahnen. Der Puls rast, die Lunge brennt. Wir leben, wir spielen. Es macht Spass. Nur die Stille irritiert mich. Keine Schrei, kein Frust, kein Jubel begleitet das, was ich sehe. Dabei wird in diesem intensiven Stummfilm hart gekämpft.
Nur nach Toren oder Fouls tauchen alle auf. Dann gibt es Jubel, Diskussionen oder Zoff mit Verzögerung. Emotionen und Spiel sind fein säuberlich nach Elementen getrennt. «Gut angeboten», ruft Sabine mir zu, während ich am Keuchen, Gucken, Wasser schlucken bin. «Weiter so», ermutigt sie mich. Ich soll ruhig kräftig zupacken, wenn ein Gegner mit Ball in der Nähe ist. Das ist leichter gesagt als getan, denn die Cracks verschwinden, drehen und winden sich, rotieren und bieten kaum Angriffsfläche, bis ich abgeschüttelt bin.
Sie sind in ihrem Element. Ich nicht. Aber ich kann spüren, was sie an ihrem Sport fasziniert. Frisch geschleudert schmecke ich Chlor und denke quer. Randsport ist kein Randsport mehr, sobald du dich darauf einlässt. Einzutauchen, mittendrin zu sein, verändert die Perspektive nachhaltig. Im Spiel war ich hoffnungslos verloren, habe fast nur mit mir selbst gekämpft und dabei trotzdem gewonnen. Eine neue Erfahrung mit interessanten Typen. Beim besten Unterwasser-Rugbyspiel meines Lebens.
Glückwunsch, du bist ganz unten angekommen. Zumindest fast. Noch tiefer in meine Texte eintauchen kannst du hier.
Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.