News & Trends

Geschenke haben nicht denselben Wert wie früher

Ümit Yoker
12.12.2017

Die Wunschlisten werden länger und länger, aber glücklicher über Weihnachtsgeschenke als es ihre Eltern einst waren, scheinen Kinder heute nicht zu sein. Unsere Konsumwelt ist komplex und allgegenwärtig, auch für Kinder, sagt Urs Kiener, Kinder- und Jugendpsychologe bei Pro Juventute. Er erklärt, wie man den Nachwuchs am besten an diese Welt heranführt und warum auch Kinder manchmal einfach Glück haben dürfen.

Im achtzehnten Jahrhundert priesen Kinder in Weihnachtswunschzetteln ihre Eltern und gelobten fürderhin Gehorsam – gut, alles vermutlich nicht ganz freiwillig. Auf den Bögen heutiger Fünfjähriger hingegen steht: Polizeistation von Lego, Spielküche, «Megazord Dino Super Charge», Garten-Kit, Velo, usw.

Herr Kiener, sind Kinder heute Sklaven der Spielzeugindustrie?

Urs Kiener: (überlegt) Im Unterschied nicht nur zum achtzehnten Jahrhundert, sondern auch zur Generation jetziger Eltern und Grosseltern, ist Konsum heute rund um die Uhr verfügbar und für viele Kinder Freizeitbeschäftigung. Ohne Geld ist ein Kind, sogar im Vorschulalter, rasch vom sozialen Leben ausgeschlossen. Hinzu kommt, dass die Konsumwelt heute viel komplexer ist. Ich bin im Berner Oberland aufgewachsen. Im Dorfladen gab es damals drei Sorten Schokolade – in einem grossen Zürcher Supermarkt kam ich kürzlich auf 136. Kinder an diese Komplexität heranzuführen, ist viel aufwendiger und anspruchsvoller für Eltern als noch vor ein paar Jahrzehnten.

Wie lernen Kinder mit Geld umzugehen und sich in der Konsumwelt zurechtzufinden?

Vieles ergibt sich aus den Fragen der Kinder selbst. Wenn Ihr Sohn zum Beispiel fragt, warum Sie arbeiten gehen, können Sie ihm erklären, dass Sie für Ihre journalistischen Artikel Geld bekommen, mit dem Sie dann die Miete bezahlen und Lebensmittel kaufen. Dass der Geldfluss heute mehrheitlich unsichtbar ist, macht das Verständnis aber etwas schwieriger. Kinder beobachten, wie wir dem Verkäufer an der Kasse ein Stück Plastik reichen und danach alles, was im Einkaufswagen war, uns gehört. Oder sie sehen, dass wir dieselbe Karte an einer Wand in einen Schlitz stecken und Noten rauskommen.

Wäre es besser, wir würden kleine Kinder möglichst vom Konsum fernhalten?

Im Gegenteil. Es ist wichtig, Kindern möglichst früh die Möglichkeit zu geben, Verantwortung zu übernehmen. Bei einem Dreijährigen bedeutet das zum Beispiel, dass er warten lernt. Nehmen wir den Klassiker – Süssigkeiten an der Supermarktkasse. Wenn Eltern nun entgegen ihrer Absicht dem Kind ein Schoggistängeli kaufen, nur, damit es aufhört sich am Boden zu wälzen, nehmen sie ihm eine Gelegenheit, mit der Fülle an Konsummöglichkeiten umgehen zu lernen. Die Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub fehlt heute nicht nur Kindern, sondern auch vielen Erwachsenen. In der Schweiz haben vier von zehn 18-jährigen Schulden. Natürlich sind das oft kleine Beträge; aber dass jemand zu einem Zeitpunkt verschuldet ist, zu dem kostspielige Lebensentscheidungen wie der Auszug von Zuhause oder die Gründung einer Familie doch erst anstehen, macht mir Sorgen.

Können sich Kinder heute überhaupt noch an Dingen erfreuen, die bei ihren Eltern einst Entzücken auslösten – einer neuen Farbstiftpalette oder der langersehnten Skijacke?

Geschenke haben ganz allgemein nicht mehr denselben Wert wie früher. Was nicht vorhanden ist, wird in der Regel gleich gekauft. Insbesondere Kleidungsstücke – früher ein zentraler Teil der Weihnachts- und Geburtstagspräsente – werden heute nicht mehr als Geschenke verstanden, sondern als notwendige Anschaffungen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele frustrierte Familien nach Weihnachten jeweils die Beratungsangebote von Pro Juventute konsultieren. Die Tochter erzählt dann aufgebracht, sie habe zu Weihnachten gar nichts bekommen. Der Vater hingegen sagt, er habe seinen gesamten 13. Monatslohn für Geschenke ausgegeben.

Allem Überfluss zum Trotz – viele Eltern wollen ihren Kindern durchaus beibringen, dass man auf ein Geschenk auch einmal warten muss. Das ist aber nicht ganz einfach, wenn der Nachwuchs auch regelmässig von Grosseltern und Bekannten beschenkt wird. Andererseits ist es verständlich, dass diese ihren Enkeln und Patenkindern unter dem Jahr eine Freude bereiten wollen, gerade, wenn sie sie nur unregelmässig sehen.

Man darf auch als Kind manchmal einfach Glück haben, sage ich immer. Besonders Grosseltern verwöhnen ihre Enkelkinder gerne und sollen das auch dürfen. Es kann unendlich lange übers Verwöhnen diskutiert werden. Ich glaube aber, dies schadet nur, wenn es Kinder unselbständig und abhängig macht. Wenn ein Erwachsener also Aufgaben für Kinder übernimmt, die sie selbst angehen könnten oder Probleme löst, denen sie gewachsen wären. Gerade bei Geldgeschenken ist es jedoch wichtig, dass Eltern informiert darüber sind, was ihre Kinder bekommen. Gibts vom Grossmami 100 Franken, ist das eine gute Gelegenheit, um mit dem Sohn zu besprechen, dass diese im Gegensatz zum Taschengeld nicht einfach ausgegeben werden sollten, sondern für das sehnlichst gewünschte Smartphone gespart werden könnten.

Zum Schluss: Wie bringen wir unseren Kindern bei, dass Konsum und materielle Werte nicht alles sind?

Das Beste, was Eltern tun können, ist Kinder einfach frei spielen zu lassen. Heute verbringen Mädchen und Jungen durchschnittlich gerade mal eine halbe Stunde pro Tag draussen, und selten sind sie dabei unbeaufsichtigt. Vor ein paar Jahrzehnten waren es noch zwei oder drei Stunden. Und würde man die Kinder selbst entscheiden lassen, wären es noch viel mehr. Ans freie Spiel kommt kein «Megazord Dino Super Charge» heran.

8 Personen gefällt dieser Artikel


User Avatar
User Avatar

Journalistin und Mutter von zwei Söhnen, beides furchtbar gerne. Mit Mann und Kindern 2014 von Zürich nach Lissabon gezogen. Schreibt ihre Texte im Café und findet auch sonst, dass es das Leben ziemlich gut mit ihr meint.<br><a href="http://uemityoker.wordpress.com/" target="_blank">uemityoker.wordpress.com</a> 


Familie
Folge Themen und erhalte Updates zu deinen Interessen

2 Kommentare

Avatar
later