Hintergrund

Im Abwechslungsreich

Michael Restin
1.11.2019
Bilder: Thomas Kunz

Ringsum das grosse Rauschen der Rheinschlucht, samtgrüne Wälder, schroffe Felswände und rundgespülte Steine. Unten ein Kajak in der Strömung. Und hinten ein singender Mann, der Wildwasserfahren mit Musizieren vergleicht. Na dann: Spiel mir das Lied vom Boot.

Vier Stunden, bevor oben unten ist, kaltes Wasser in meine Nase schiesst und die Sonne nur noch eine verschwommene Fantasie zu sein scheint, sind wir ganz oben. Von der Aussichtsplattform Spitg ist der Blick atemberaubend. Er schweift durch das Versamer Tobel und die Rheinschlucht, bleibt an zerklüfteten Felswänden hängen und wandert hinunter zum smaragdgrünen Strom, der der Schlucht ihren Namen gibt.

Unter uns schlängelt sich noch ungezähmt das, was weiter nördlich zu einer der am stärksten befahrenen Wasserstrassen der Welt kanalisiert werden wird. Ruedi Gamper ist auf dem Rhein schon bis nach Rotterdam gepaddelt, aber sein Revier, sein Abenteuerspielplatz seit Kindertagen, ist hier. Der St. Galler ist draussen zuhause und am liebsten dort, wo es wild wird. «Ziemlich wenig Wasser», sagt er talwärts gewandt, und dann, breit lächelnd: «Schaut euch die Felsen an!» Es gibt immer was zu erleben, diese Lektion haben Fotograf Tom und ich auf unserem ersten Ausflug mit Ruedi gelernt. Was aus diesem Kajak-Trip werden wird, wissen wir noch nicht so genau. Neben uns blinzelt Yair Camacho in die Oktobersonne.

Ruedi und er sind Paddel-Buddies, die gemeinsam schon alle möglichen und unmöglichen Gewässer der höchsten Schwierigkeitsgrade befahren haben. Sie erzählen von Gewaltmärschen mit geschultertem Kajak durch den Urwald, meterhohen «Drops», «Slides» und Abseilaktionen in die Abgründe der «Seven Sisters», sieben aufeinanderfolgenden Wasserfällen auf dem Río Alseseca in Mexiko. Wo es rauscht, sind sie zur Stelle. Nicht nur, weil sie Adrenalinjunkies sind. Auf den schwer zugänglichen Wasseradern dieser Welt sind auch einmalige Eindrücke zu finden, meint Ruedi.

«Wir waren an Orten, von denen du genau weisst, dass ausser ein paar Paddlern noch nie ein Mensch vorbeigekommen ist.»

Das lässt sich von der Rheinschlucht nicht behaupten. Sie ist bestens erschlossen und der Vorderrhein mit Grad II bis III auf der Wildwasserskala mässig schwierig zu befahren. Mit ihren bis zu 350 Meter hoch aufragenden Felswänden ist sie aber allemal ein Naturspektakel. Eines, das in Begleitung der Könner auch uns aus der Wasserperspektive offen steht. Also runter vom Aussichtspunkt. Ruedi legt Tempo vor, springt in seinen VW-Bus. Nein, auf den Bus und rein ins Kajak. Und wenn es nur für einen kurzen Perspektivwechsel, für ein witziges Foto ist – er interpretiert alles im Leben als Spiel mit den Möglichkeiten.

Im Paddel-Express

Auf kleinen Strassen geht es in die Schlucht zur Kanuschule Versam, wo wir uns in Trockenanzüge schälen und die «Topo Duo» genannten Zweier-Kajaks auf uns warten. Sitzprobe. Gar nicht so einfach, in die Polyethylen-Wannen zu steigen und die Knie in die Seitenwände zu klemmen. Kaum haben Tom und ich Platz genommen, müssen wir auch schon wieder raus, denn der Zug fährt gleich ab und wir haben noch kein Billett. Noch sind wir nicht dort, wo es ins Wasser geht.

Und so ein RhB-Automat schafft, was kein Abgrund und kein Wasserfall kann: Er bringt Ruedi aus der Ruhe. In welchem Untermenü sich der Preis für unser Sportgepäck versteckt, ist schwieriger zu ergründen als jede Stomschnelle. Dafür ist schon die Fahrt ein Erlebnis. Wir wuchten die Kajaks in den Gepäckwagon und stehen auf dem Weg nach Ilanz am Fenster, während draussen der welliger werdende Rhein vorbei rauscht und die Vorfreude steigt.

Auf dem Trockenen

Eine steile Böschung noch, über die wir die rund 40 Kilo schweren Zweisitzer nach unten bugsieren, dann sind wir am Wasser. Es wird ernst. Ruedi und Yair werden ernst. Denn ein paar Dinge müssen wir wissen. «Wir werden sie wahrscheinlich nicht brauchen», sagt Yair und zieht eine Wurfleine hervor, die bei Strömungsrettungen zum Einsatz kommt. In wenigen Sätzen erklärt er, wie wir sie im Notfall packen müssen. Dann klettern wir in unsere Sitze. Ruedi lässt mich einsteigen und zieht die Spritzdecke auf, die mich mit dem Kajak verbindet.

«Wenn wir kentern, nimmst du das Paddel zur Seite, beugst den Oberkörper nach vorne und drehst aus der Hüfte ein bisschen mit», schärft er mir ein, bevor er wissen will: «Was machst du, wenn wir nicht mehr hochkommen?» Gute Frage. Wichtige Frage. Schon klar, dass die Spritzdecke weg und ich aussteigen muss. «In Panik geraten!?», frage ich zurück. «Ruhig bleiben, nach der Lasche der Spritzdecke greifen, abziehen und aussteigen», sagt Ruedi. «Und im Wasser immer mit den Füssen voraus schwimmen! Mit den Füssen kannst du dich in der Strömung gegen jeden Felsen stemmen, das Wasser umströmt dich und du bekommst Luft», erklärt er. «Nie mit dem Kopf voraus, sonst...» Klatsch, ein Schlag auf meinen Helm sagt mehr als der fehlende Halbsatz. Dann spritzt Ruedi mir ein paar Hände voll Wasser ins Gesicht, schreit, springt an Bord und wir legen los.

In der Strömung

Ein paar Paddelschläge nur, schon gleiten wir mitten im Strom. Er fliesst an dieser Stelle noch ruhig, aber der Sog nimmt zu und das Rauschen auch. Über Untiefen und Steine hinweg paddle ich mehr auf Verdacht als durchdacht und warte auf Kommandos, wissend, dass Ruedi uns mit druckvollen Schlägen rechtzeitig auf Kurs bringt.

Wir rumpeln über rundgespülte Steine und fahren diagonal zur Strömung, neigen uns und schnellen wieder zurück. Ich höre «Felsen!», «Kehrwasser!» und «paddeln, paddeln, paddeln!», dann glaube ich das erste Mal, dass wir kentern. Tun wir aber nicht. Ruedi hat uns lediglich aus der Strömung manövriert und ich spüre, dass hier ganz viel aus der Hüfte passiert, dass die Schräglage im Kajak keine Notlage, sondern notwendig ist.

«Das Kehrwasserfahren ist überlebenswichtig», trichtert Ruedi mir ein. Hinter Hindernissen, wo sich die Strömung verlangsamt oder umkehrt, tut sich ein natürlicher Zufluchtsort auf, den jeder Paddler erreichen können muss. Zum Ausruhen, flussaufwärts fahren und neu orientieren, bevor es wieder ins Wildwasser geht. Also üben wir.

Kajak ausrichten, auf Kommando ein paar kräftige Paddelschläge, nach innen neigen und aufkanten, um dem Wasser an der Verschneidungslinie zwischen den Strömungen keine Angriffsfläche zum Schiffe versenken zu bieten. Immer wieder. Und immer wieder mit dem Gefühl, dass ich alleine ein Spielball für die Wassermassen wäre. Ich sehe nicht, was Ruedi hinter mir treibt. Aber wenn er paddelt, fühlt es sich an, wie wenn beim E-Bike der Motor einsetzt. Tom, der nebenbei noch mit der GoPro auf seinem Kopf hantiert, wird von Yair genauso chauffiert.

Im Wildwasser

Wenn die Kajakspitze eintaucht, Wasser gegen die Brust klatscht und die Steine rundherum in weichen Wellen und Wirbeln umspült, ist es schwer, kein Lächeln im Gesicht zu haben. Alles beginnt zu rauschen, und die Sinne tanzen im Takt der Elemente. Der Sog fühlt sich lebendig an und verleitet dazu, sich weiter und immer weiter mitreissen lassen zu wollen.

Das Wasser wählt den Weg des geringsten Widerstands. Es hat nur diese eine Möglichkeit. Der Paddler dagegen viele, was fatale mit einschliesst. «Du lernst mit der Zeit, mit dem Wasser zu spielen», sagt Ruedi. «Es ist wie Flöte spielen.» Was in meinen Ohren ein grosses Rauschen ist, ist in seinen Musik.

Der Musik-Vergleich ist interessant, aber die Realität wirkt komplexer als ein Blockflötenkurs. Mal strömt das Wasser harmonisch dahin, um im nächsten Augenblick mit ein paar Heavy-Metal-Riffs zu überraschen. Für mich ist der Paddler eher Dirigent, der mit Blick auf die Partitur der Natur das grosse Ganze erkennt und es stets neu interpretieren muss. Was auch immer hier gespielt wird: Ich habe einen Logenplatz. Und während wir durchs Wasser pflügen, wachsen die den Fluss flankierenden Felswände steiler in den Himmel.

Im Strömungslehre-Seminar

«Da stirbst du», sagt Ruedi, während wir einen Fels in der Strömung passieren, der unterspült wird. «Das Wasser kommt auf der anderen Seite wieder raus. Du nicht.» Zwei Meter rechts davon, wo wir uns bewegen, wirkt alles gefahrlos und leicht. Es ist nicht schwer, um die Risiken zu wissen und sich trotzdem dahintreiben, vom Fluss einlullen zu lassen. Ruedis Blick ist geschärft, er redet von Pilzen und Walzen, benennt Strömungen, Gefahren und Zusammenhänge, um kurz darauf lauthals «Sweet Caroline» in die Rheinschlucht zu schmettern. Good times never seemed so good. Das trifft schon eher meine Stimmung. Wogegen ich dem Strömungslehre-Seminar nur begrenzt folgen kann, weil das tobende Wasser um mich herum meine Aufmerksamkeit absorbiert. Aber so schnell, wie Ruedi die Themen wechselt, verwandelt sich der Vorderrhein von der Buckelpiste in einen Ruhepol.

In ruhigen Gewässern

Wir lassen uns treiben. Das Wasser schäumt nicht mehr und nimmt sich zurück, als ob es der Schlucht nicht die Show stehlen wollte. Die Ruinaulta erhebt sich majestätisch und wir, die wir nicht lange zuvor von oben auf sie herabgeblickt haben, legen den Kopf in den Nacken. Vier Wassermänner geniessen die Froschperspektive, die ständigen Perspektivwechsel, die sich bieten, wenn alles im Fluss ist.

Zeit, sich umzuschauen. Und Zeit, dumme Fragen zu stellen. «Was machst du eigentlich, wenn das Paddel bricht?», will ich wissen. Denn in den Untiefen, in den unübersichtlichen Stromschnellen, habe ich mich vor lauter Steinen kaum getraut, es ins Wasser zu tauchen. So ein geschreddertes Paddelblatt im wirklich wilden Wasser stelle ich mir dramatisch vor. «Mit einem halben Paddel weiterpaddeln», antwortet Ruedi. Dass das Spiel mit den Möglichkeiten weitergehen muss und manchmal nur eine übrig bleibt, lerne ich auf die nasskalte Tour.

Unter Wasser

Wenn es rundum still wird und einatmen keine Option mehr ist, dröhnen die Gedanken nur so durch die Hirnwindungen. Der Schädel wird zur Echokammer. Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, kopfüber im Flussbett zu hängen. Zwei oder drei Eskimorollen haben wunderbar funktioniert, aber diese, diese letzte kurz vor dem Ausstieg, eben nicht. Wir waren doch schon wieder oben, an der Luft, am Aufatmen. Dann kippte das Kajak zurück. Für einen Moment glaube ich, dass Ruedi eine Bonusrunde mit mir dreht. Dann: Stille. Kälte. Gar nichts mehr. Ich vergesse alles, sehe nicht, was Ruedi macht. Kann nicht mehr fragen. Hänge fest. Weiss nicht weiter.

Denke nur: raus! Luft! Winde mich hektisch, glaube dummerweise, mit dem Kopf an die Oberfläche zu kommen, wenn ich das Kajak packe. Bleibe knapp darunter. Schlucke Wasser. Verdränge die aufkommende Panik. Vergesse die Lasche, die blöde Lasche, die ich nur packen müsste, um die Spritzdecke zu lösen. Strample mit den Beinen, spüre, wie wir abtreiben. Werde plötzlich ruhig. Merke, dass sich was bewegt, dass meine Beine Spielraum haben, und stemme mich aus dem gekenterten Kajak. Tauche auf, tatsächlich. Finde mich im hüfttiefen Wasser wieder, wo Ruedi schon steht, abklatscht und sagt: «Jetzt hast du alles erlebt.» Die Rheinschlucht. Zum Sterben zu schön.

Selbst erleben

Unser Trip führte von Versam-Safien mit der Rhätischen Bahn nach Ilanz und von dort auf dem Wasserweg zurück zum Ausgangspunkt. Das ist der wildere Teil des Vorderrheins, die anschliessende Strecke von Versam nach Reichenau ist ruhiger. Wer selbst nicht sicher im Wildwasser unterwegs ist, holt sich fachkundige Begleitung ins Boot oder erlebt die Rheinschlucht beim Rafting.

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Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.


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