
Hintergrund
Netflix, Prime und Co.: Ausgeburten der Hölle?
von Luca Fontana
Netflix und Co. gelten als die grosse Konkurrenz des Kinos. Ironischerweise ist ausgerechnet ein Film des Streamers kürzlich mit drei Oscars geehrt worden. Macht Netflix’ neugewonnene Liebe für den Film das traditionelle Kino kaputt?
Alfonso Cuaróns «Roma» ist in aller Munde. Der Film erzählt die turbulente Geschichte einer Haushälterin im politisch instabilen Mexiko der 1970er Jahre. Drei Oscars hat er dieses Jahr gewonnen, unter anderem in der Kategorie «Beste Regie». Zuvor wurde er an den internationalen Filmfestspielen in Venedig mit dem goldenen Löwen ausgezeichnet.
«Roma» ist aber nicht nur ein preisgekröntes Meisterwerk, sondern auch ein Netflix Original.
Das ist aussergewöhnlich. Es ist die erst zweite Filmproduktion nach Primes «Manchester by the Sea», die unter dem Label eines Streaminganbieters einen Oscar gewinnen konnte oder für eine goldene Statuette auch nur in Betracht gezogen worden ist. Kein Wunder: Netflix, Prime und Konsorten gelten eher als Konkurrenten des traditionellen Kinos, nicht als potenzielle Titelkandidaten für die prestigeträchtigste Auszeichnung Hollywoods.
Stellt sich die Frage, was Netflix damit bezweckt. Etwa einen Krieg der Kinobranche?
Bekannt geworden ist Netflix vor allem durch ein Serienangebot, das Quantität und Qualität erstaunlich gut vereinbart. Obwohl Filme anfangs eher eine Nebenrolle gespielt haben, macht sich der Streaminganbieter mittlerweile auch mit selbst produzierten Spielfilmen und Dokus einen Namen.
Zum Vergleich: Anno 2018 sind das etwas mehr als doppelt so viele Filme und Dokus gewesen als die Filmstudios Warner Brothers und Disney zusammen ins Kino gebracht haben. Das alleine zeigt, wie sehr Netflix Angebot wächst. Vergangenes Jahr hat sich der Streamer seine «Originale» – Serien und Marketing inklusive – etwa 13 Milliarden Dollar kosten lassen. Dieses Jahr sollen gar 15 Milliarden Dollar abgefeiert werden.
Mehr Geld als je zuvor in Film- und Doku-Eigenproduktionen zu investieren ist aber nur ein Teil der Strategie, um neue Abonnenten zu gewinnen. Mindestens genauso wichtig ist Aufmerksamkeit. Und die gibt’s auf den roten Teppichen dieser Welt.
Der Streamer macht ernst.
Die ersten Gehversuche macht Netflix anno 2015 am Filmfestival in Venedig, wo Festspielleiter Alberto Barbera die Netflix-Eigenproduktion «Beast of No Nation» ins Programm aufnimmt. Zwei Jahre später ist der Streaminganbieter an den internationalen Filmfestspielen von Cannes dabei, wo es die goldene Palme zu gewinnen gibt – den wichtigsten Filmpreis nach Hollywoods Oscars. Gezeigt werden «Okja» von Bong Joon-ho und «The Meyerowitz Stories» vom deutschen Regisseur Noah Baumbach.
Die Kinobetreiber toben.
Das Problem: In Netflix’ Geschäftsmodell ist kein Kinovertrieb vorgesehen. Filme, die unter Umständen prestigeträchtige Preise und damit die Aufmerksamkeit des Publikums gewinnen, laufen danach nicht im Kino, sondern werden direkt ins Wohnzimmer der Abonnenten gestreamt. Wenn statt Kinotickets neue Netflix-Abos gelöst werden, bangen Kinobetreiber um ihre Einnahmen. Solche Filme zu berücksichtigen, so der Vorwurf der Betreiber an die Filmfestspiele, sei Hochverrat am Kino. Steven Spielberg wird ein paar Monate später sogar sagen, dass Netflix-Filme als das gesehen werden sollten, was sie sind – Fernsehfilme. Daher hätten sie bei Kino-Preisverleihungen nichts verloren.
Als die Polemik in Cannes dann soweit ausartet, dass der Film «Okja» nach fünf Minuten unterbrochen werden muss, weil das Netflix-Logo zu Filmbeginn für Buhrufe und Gegenapplaus aus dem Publikum sorgt, sieht sich Cannes-Chef Thierry Frémaux zum Handeln gezwungen, und ändert die Regeln: Filme, die in Frankreich nicht im Kino gezeigt werden, dürfen fortan nur noch ausser Konkurrenz am Festival teilnehmen.
Ted Sarandos, Inhaltsverantwortlicher von Netflix, stinkt das gewaltig. Denn wenn er einen seiner Filme doch mal für kurze Zeit in ein paar Kinos zeigt – um sich für die Oscars zu qualifizieren –, besteht Sarandos auf ein Day-and-Date-Release. Also auf ein gleichzeitiges Startdatum fürs Kino und für die eigene Internetplattform.
Ein No-Go für Kinobetreiber, besonders in Frankreich. Dort darf ein im Kino gezeigter Film von Gesetzes wegen frühestens drei Jahre später zum Streamen angeboten werden. Zum Schutz der französischen Kinobetreiber, versteht sich, aber für Sarandos und Netflix’ Geschäftsmodell keine Option. Kurz darauf kündigt Netflix an, in Zukunft Cannes fernzubleiben.
«Was Cannes da feiert, ist nicht die Filmkunst, sondern den Filmverleih», wettert Sarandos.
«Netflix hat so viele Filme, die könnten doch einfach für Cannes eine Ausnahme machen», antwortet Frémaux.
Der Krieg, der zwischen Netflix und Cannes tobt, lässt keine Seite besonders gut aussehen. Nicht, solange sich niemand für den Dialog öffnet. Die Debatte, die ihm zugrunde liegt, ist allerdings verzwickt: Ist das Kino der Zukunft ein soziales Erlebnis auf der grossen Leinwand, oder ist es etwas, das wir als Soforterlebnis vom Sofa aus über andere Plattformen teilen? Ist das, was Netflix will, überhaupt noch Kino, oder stecken Cannes und die Kinobetreiber einfach in der Vergangenheit fest?
Netflix jedenfalls macht Druck. Und Festivalleiter Frémaux wird in Zukunft kaum an seiner Haltung festhalten können. Ausser, er verzichtet in Cannes auf illustre Regisseure und Schauspieler; der Streaming-Gigant scheut keine finanziellen Mühen, um Hollywood-Glamour und Oscarpreisträger auf die eigene Internetplattform zu bringen.
Schon bei «Okja» spielten Tilda Swinton und Jake Gyllenhaal mit. Kürzlich hat sich Netflix die internationalen Vertriebsrechte an Andy Serkis «Mowgli» – unter anderem mit Benedict Cumberbatch und Christian Bale – für 100 Millionen Dollar gesichert. Ein Jahr zuvor war es Alex Garlands «Annihilation» mit Natalie Portman in der Hauptrolle. Aber auch, wenn Netflix selber produziert, fehlen die berühmten Namen nicht: Etwa Will Smith im Fantasythriller «Bright», oder Brad Pitt und Topher Grace in der Kriegssatire «War Machine».
Dann kam «Roma». Um überhaupt am Oscar-Rennen teilnehmen zu können, musste Netflix den Film im Kino zeigen. Was wie ein kleiner Schritt auf Kinobetreiber aussieht, sind eigentlich die Regeln der Academy, die Jahr für Jahr die Oscar-Gewinner kürt.
Aber anders als in Frankreich gibt’s in den USA kein Gesetz, das ein Day-and Date-Release verbietet. Darum ist es für Netflix auch nicht schwer gewesen, ein paar Kinobetreiber zu finden, die «Roma» auf der grossen Leinwand zeigen – drei Wochen, bevor der Film zum Streamen bereitgestanden hat. Das sind zwar nicht die etwa 90 Tage, die üblicherweise zwischen Kino- und DVD/Blu-ray-Release stehen, aber immerhin.
Und «Roma» soll nicht der letzte von der Academy preisgekrönte Film Netflix’ sein: Im Herbst folgt mit Mafiathriller «The Irishman» der nächste Anwärter. Auf dem Regiestuhl Platz genommen hat Regielegende Martin Scorsese, und zum Cast gehören Robert De Niro, Al Pacino und Joe Pesci. Die Zusammenarbeit ist entstanden, als Scorseses damals aktueller Film «Silence» an den Kinokassen gefloppt ist. Weil Filmstudio Paramount Pictures das Risiko eines weiteren Flops nicht eingehen wollte, ist Netflix in die Bresche gesprungen – mit einem Budget von 140 Millionen Dollar.
Wie schon bei «Roma» wird Netflix den Film wohl zwei- bis drei Wochen vorher in einigen wenigen Kinos zeigen. Vielleicht sogar in einer eigenen Kinokette, wenn den Gerüchten, dass der Streamer ernsthaft darüber nachdenkt, Kinoketten zu kaufen, Glauben geschenkt werden kann.
Unmöglich scheint dies nicht; einem Day-and-Date-Release stünde dann nichts mehr im Wege. Der Verkauf von Getränk und Popcorn würde zusätzliche Einnahmen generieren. Netflix könnte sogar Events veranstalten, wo visuell beeindruckende Sci-Fi-Serien wie «Star Trek: Discovery» oder «Lost in Space» gemeinschaftlich im Kino gebinge-watched werden. Menschen, die dafür zahlen würden, auch wenn sie die Serie zu Hause im Abo inkludiert hätten, gibt’s bestimmt.
Bedenklich daran ist nur, dass Netflix-Kinosäle ein weiterer Schritt in Richtung Monopolisierung der Film- und Serienlandschaft wäre, wo der Streamer nach eigenen Spielregeln spielen kann.
Netflix glamouröser Kurs sichert dem Streamer die Zusammenarbeit mit renommierten Regisseuren und Schauspielern. Das wiederum erhöht das Interesse des Publikums und damit die Abozahlen. Schliesslich muss sich Netflix wappnen: Ab Ende Jahr soll Disneys eigener Streamingdienst Disney+ starten. Auch Warner Brothers hat angekündigt, mit einem eigenen Streamingportal ein Stück vom Kuchen abbekommen zu wollen.
Sichert Netflix seine Zukunft auf Kosten des Kinos? Meine Antwort: ganz klar nein.
Natürlich ist Netflix bequem. Natürlich lohnt sich ein Netflix-Basic-Abo, das unbegrenzten Zugang auf das gesamte Film- und Serienportfolio für 11.90 Franken pro Monat sichert, wenn die Alternative ein einziges Kinoticket für etwa 20 Franken ist. Wären aber die Inhalte, die der Streaminganbieter produziert, nicht so gut, dann wäre das kalifornische Unternehmen auch nicht so erfolgreich – convenience hin oder her.
Eigentlich liesse sich gar argumentieren, dass Netflix eher zur Kinokultur beiträgt. Seit Jahren setzen Filmstudios fast nur noch auf Superhelden-Filme oder Fortsetzungen etablierter Marken. 2018 hat es nur «Bohemian Rhapsody» als eigenständiger Film in die Top 10 der weltweit erfolgreichsten Filme geschafft – unterstützt von der Anziehungskraft der legendären Band hinter dem musikalischen Biopic.
Ohne Netflix gäbe es also kein «The Irishman». Vielleicht auch nicht «Roma». «Ex Machina»-Macher Alex Garland hätte sein «Annihilation» nur in den USA zeigen können. Und Andy Serkis «Mowgli» war so kurz nach Disneys Real-Adaption von «The Jungle Book» zum Scheitern verdammt. Wenn Netflix-Programmchef Ted Sarandos also sagt, dass das Festival in Cannes eher den Filmverleih in Frankreich als den Film selbst unterstützt, dann hat er nicht ganz unrecht.
Die Zukunft des Kinos steht vor Veränderungen. Vor allem die kleinen Betreiber jenseits von Multiplex-Kinos mit schicken Sälen, bequemen Sesseln und 4DX-Events fürchten um ihre Existenz. Schlussendlich liegt’s aber an uns Zuschauern, zu entscheiden, wo wir einen Film am liebsten schauen. Es spricht nichts dagegen, abends zu netflixen, am Wochenende ins Kino von nebenan zu gehen und im Sommer ein Festival oder Open-Air-Kino zu besuchen.
Auf den Punkt gebracht hat’s Venedigs Festspielleiter Alberto Barbera. Also derjenige, der schon 2015 mit «Beast of no Nation» einen Netflix-Film ins Programm aufgenommen hat und dafür kritisiert worden ist:
Es macht keinen Sinn, Filme aufgrund ihrer Herstellungsart zu diskriminieren. Ich suche Filme nach ihrem künstlerischen Wert aus. Egal, woher sie kommen, sie sind Bestandteil des heutigen Kinos.
Amen.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»