

Mikroabenteuer statt Fernreise: Erlebe die Welt vor deiner Haustür

Vor deiner Haustüre warten jede Menge Abenteuer auf dich: Auch wenn sie im ersten Augenblick nicht so wirken. Ich stürze mich in mein erstes Mikroabenteuer.
Abenteuer habe ich so manche erlebt. Oft verdankte ich diese meiner – lasst es mich positiv ausdrücken – leichtfertigen Art: Gern starte ich in fast jedem Urlaub tagesfüllende Erkundungstouren ohne vollen Akkustand. Und ohne Powerbank. Anderes Beispiel: Einmal habe ich am Flughafen von San Francisco mein USA-Einreiseformular derart lückenhaft ausgefüllt, dass mich ein Mitarbeiter der Homeland-Security zwei Stunden lang zu meinem Aufenthalt befragt (eher angeschrien) hat. Ein anderes Mal waren mir Zugtickets von Wien bis Hamburg, die ich kurz vor der Abfahrt buchen wollte, viel zu teuer, sodass ich die Strecke lieber per Anhalter gefahren bin.
Solche unverhofft aufregenden Momente erinnern einen an die Unplanbarkeit des Lebens. Doch im Hamsterrad des Alltags wird das Zeitfenster dafür immer kleiner. Gut, dass sich jemand alltagstaugliche Abenteuer überlegt hat: Mikroabenteuer. Das sind aufregende Fluchten aus der Normalität in leicht verdaulichen Dosen. Sie starten pünktlich nach Feierabend und sind kurz vor Arbeitsbeginn wieder abgeschlossen.
Mikroabenteuer: Was ist das?
Die Idee habe ich dem Briten Alistair Humphreys zu verdanken. Von ihm stammt das Buch «Microadventures» in dem er 2014 den Begriff ins Leben ruft. Humphreys beschreibt das Mikroabenteuer darin als «lokales, kostengünstiges, simples, kurzes Abenteuer», das im Grunde vor der Haustüre stattfindet. Ein Tagebucheintrag im Wald, ein spontaner Camping-Ausflug am Hügel hinter dem Haus oder ein Spaziergang durch die eigene Stadt ohne Ziel oder Handy.
Die Idee dahinter: Den schnöden Alltag zu durchbrechen und die Komfortzone zu verlassen. «Wo die Angst ist, da geht’s lang» sagt ein anderer Pionier der Mikroabenteuer, Podcaster und Autor Christo Foerster in einem Interview. Darin betont er das Mikroabenteuer als Chance, das Handy zur Seite zu legen und stattdessen Zeit in der Natur zu verbringen.
Foerster hat das Konzept um seine eigenen Regeln erweitert: So darf das Mikroabenteuer bei ihm zwischen acht und 72 Stunden lang dauern, es sollte kein Auto (und erst recht kein Flugzeug) bestiegen werden und wenn du im Freien übernachtest, dann nur ohne Zelt. Möglichst ohne Hilfs- und Transportmittel auszukommen, leuchtet total ein und löst in mir schon in der Planungsphase ein leichtes Bauch-Kribbeln und Abenteuerdurst aus.
Finde dein Mikroabenteuer
Auf der Suche nach meinem persönlichen kleinen Tête-a-Tête mit dem Alltagsabenteuer stoße ich auf viele Inputs: Aufs Rad steigen und einfach losfahren, sich bis zur U-Bahn-Endstation treiben lassen oder eine Nachtwanderung unternehmen. Vieles davon scheint mir auf den ersten Blick überhaupt nicht abenteuerlich, sondern sogar ziemlich alltäglich. Jede Woche radle ich planlos durch die Stadt, weil mein Fahrrad keine praktische Halterung für mein Handy hat und ich es darum meistens ohne Navigation probiere. Ich wohne auch fast an der U-Bahn-Endstation und ganz ehrlich: Die Waggons sind am Ende nicht ohne Grund leer – niemand will dort landen. Ich bin auch nicht meine eigene Feindin und unternehme unter der Arbeitswoche besser keine Nachtwanderung ...
Folge deiner Angst, sagt Foerster. Wieso kann ich nicht einfach den Dingen folgen, die ich gerne tue? Als Kind liebte ich es, im Garten zu zelten: Ich durfte Freundinnen einladen, wir beobachteten die Igel, Eulen und die Sterne am Himmel. Bis heute bin ich überzeugte Camperin und verbringe gern Zeit im Freien. Glücklicherweise lebe ich in einer Wohnung mit kleiner Terrasse und Blick in den Gemeinschaftsgarten – der perfekte Ort für ein Mikroabenteuer, finde ich. Ich verlasse zwar meine Komfortzone, aber eben nicht sehr weit. Eigentlich muss ich mich dafür nicht weit aus dem Fenster lehnen: Bis auf meine Terrasse, um genau zu sein, von wo aus meine Komfortzone nie weiter als eine Armlänge von mir entfernt ist.
Equipment: Was brauche ich für das Mikroabenteuer?
Der Plan steht: eine Übernachtung auf meiner Terrasse, auf dem harten Steinboden statt im kuscheligen Bett. Absolut nicht notwendig und völlig sinnbefreit – aber ich nehme an, darum geht es bei Mikroabenteuern. Ausrüstung brauche ich dazu keine, glaubt man zumindest den Abenteurern Humphreys und Foerster. Die Idee, sich mehr oder weniger spontan in das Alltagsabenteuer zu stürzen, werde durch aufwendiges Equipment nur zerstört. Je nachdem welches Mikroabenteuer du planst, macht ein bisschen Ausrüstung aber durchaus Sinn: Bei Nachtwanderungen eine Taschenlampe, warme Kleidung, feste Schuhe und ein Taschenmesser einzustecken, ist bestimmt kein Fehler.
Nach Feierabend rüste ich mich mit Schlafsack, Isomatte, Campingkocher, Geschirr und einer akkubetriebenen Lampe aus – dafür muss ich nur alles aus meinem Kellerabteil holen. Dann kaufe ich noch ein One-Pot-freundliches Fertigessen, das ich auf meinem Gaskocher zubereiten kann. Es ist 18 Uhr und ich breite alles auf meiner Terrasse aus. Noch ein paar Kerzen dazu, ein Glas Rotwein und ein gutes Buch. Das Handy? Lasse ich in meiner Komfortzone zurück.
Staycation: Was uns die Pandemie über Mikroabenteuer gelehrt hat
Es dauert nicht lange, bis mich die ersten Nachbarn und Nachbarinnen über den Gartenzaun ansprechen. Kein Wunder, schließlich muss der Anblick wirklich ungewöhnlich sein: Eingewickelt in einen Schlafsack koche ich Fertignudeln über einer winzigen Gasflamme – und das, obwohl ich weder aus meiner Wohnung gesperrt bin, noch Lockdown-bedingt zu einer Staycation gezwungen werde.
Apropos Staycation: Tatsächlich gab die Pandemie zumindest kurzfristig Aufwind, Mikroabenteuer und ihre Wirkung auf uns zu erforschen. Unter anderen widmete Jasmine Goodnow, Wissenschaftlerin der Western Washington University, ihre Forschung während der Pandemiejahre dem Abenteuer vor der eigenen Haustüre. Kein Wunder, schließlich waren Ländergrenzen geschlossen und Reisemöglichkeiten endeten oft genug auf dem eigenen Balkon.
In Goodnows Studien zeigt sich: Reisedauer und -entfernung sind weniger wichtig, als sich von Ablenkungen wie E-Mails, dem Telefon oder Social Media zu distanzieren. In dem Zusammenhang spricht die Forscherin von «Depth over Distance»: Demnach können Mikroabenteuer vor der eigenen Türschwelle zu einem intensiveren Reiseerlebnis führen als Fernreisen.
Und: Mikroabenteuer sind finanziell und zeitlich regelmäßiger möglich als Reisen in entfernte Länder. Darum tragen sie eher zu einem gesunden Verhältnis von Arbeits- und Privatleben bei, als ausgedehnte Urlaube ans andere Ende der Welt.
Mikroabenteuer im Gemeinschaftsgarten
Auf die irritierten Blicke meiner Nachbarn rechtfertige ich mich entschuldigend: «Ich probiere etwas aus.» Als wäre es ein Verbrechen, an einem Dienstagabend nicht vor dem Fernseher, sondern unter den Sternen einzuschlafen.
Vier meiner näheren Nachbarinnen und Nachbarn bleiben länger vor meiner Terrasse stehen. Wir plaudern, ich schenke Wein aus. Mit den Stunden beruhigt sich der nachbarschaftliche Trubel und die Dämmerung bricht herein. Der Abend ist kühl, der Wind wird leiser und die Stadtgeräusche treten weiter in den Hintergrund. Die Sterne sind durch das Licht der Stadt kaum zu sehen.
Ich lese mein Buch zwischen Kerzenschein und dem Licht der Straßenlaternen. Igel und Eulen sehe ich keine, dafür aber einen Fuchs, der über die Mauer hinter dem Garten schleicht. Er ist groß und blassorange. Ich habe noch nie einen Fuchs in natura gesehen. Mir kommt das vorbeiziehende Tier in diesem Moment wie ein Fabelwesen vor. Die Erscheinung hält mich noch einige Zeit vom Einschlafen ab, dann beruhige ich meine Gedanken und schließe die Augen. Mein Handy habe ich mittlerweile aus der Wohnung zu mir nach draußen geholt: Ohne Wecker erwache ich sicher nicht pünktlich vor Arbeitsbeginn aus meinem Mikroabenteuer.
Fazit: Schmerzende Hüften und glückliches Herz
Der nächste Morgen gleicht dem Erwachen nach einem One-Night-Stand. Ich hieve mich neben meiner rauchenden Nachbarin, mit der ich die Gartenparzelle teile und die gerade ihren Morgenkaffee trinkt, in die Senkrechte. Wir grüßen uns schüchtern. Bevor wir uns noch peinlich berührt anschweigen, erlöse ich uns beide und gehe in meine Wohnung. Wie bei einem One-Night-Stand verliert auch der Mikroabenteuermoment bei Tageslicht seinen Glanz.
Nach der Nacht auf einer dünnen Isomatte schmerzen meine Hüften. Fast noch mehr weh tut allerdings, dass ich jetzt acht Stunden lang arbeiten muss. Ein nächtliches Mikroabenteuer unter der Woche ist eben weniger leicht zu verkraften als am Wochenende. Aber: Ich hatte einen ziemlich fantastischen Abend. Ich habe mich wie eine Leuchtreklame in den Nachbarschaftsgarten gelegt und mein Licht hat viele Nachbarinnen und Nachbarn und gute Gespräche angezogen.
An anderen Abenden hätte ich mich mit dummen TikTok-Videos in den Schlaf gewogen, im Mikroabenteuer habe ich stattdessen wirkliche Dinge erlebt. Ich glaube, darin liegt für mich persönlich der wesentliche Gewinn eines Mikroabenteuers: Raus aus der virtuellen, zweidimensionalen Online-Welt, in der sich erschütternde Weltnachrichten einen Schlagabtausch mit lustigen Katzenvideos liefern. Rein in die wirkliche Welt vor der eigenen Haustüre. Mit netten Menschen, frischer Luft, Situationskomik und einem Fabelwesen. Das Mikroabenteuer war zwar kein Aufreger, doch ich fühle mich danach erfüllt und glücklich. Mikroabenteuer machen den Alltag bunter und noch wichtiger: Sie öffnen die kleinen Fenster in denen sich besondere Momente ergeben können.
Titelfoto: shutterstock

Ich liebe blumige Formulierungen und sinnbildliche Sprache. Kluge Metaphern sind mein Kryptonit, auch wenn es manchmal besser ist, einfach auf den Punkt zu kommen. Alle meine Texte werden von meinen Katzen redigiert: Das ist keine Metapher, sondern ich glaube «Vermenschlichung des Haustiers». Abseits des Schreibtisches gehe ich gerne wandern, musiziere am Lagerfeuer oder schleppe meinen müden Körper zum Sport oder manchmal auch auf eine Party.