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Schrumpfende Stuben, zerdehnte Minuten

Ümit Yoker
18.1.2017

Im Familienalltag sind viele Konzepte, so wie man sie bisher kannte, komplett untauglich. Die bisherige Vorstellung von Zeit und Raum etwa kann man sich getrost schenken.

Wenn mein Sohn als Baby loszubrüllen begann, dachte ich jeweils an das Badekissen, das ich einmal bei einem befreundeten Paar gesehen hatte: Mao war darauf abgebildet gewesen, und mein Kind sah dem totalitären Herrscher in seiner Wut beunruhigend ähnlich.

Dem Kissen nicht ganz ungleich verfügte mein Sohn zudem über die Fähigkeit, sich zu gegebener Zeit auf ein Vielfaches auszudehnen. War er aufgebracht, schien er sich in einen riesigen, roten Zornesballon zu verwandeln, der bald den ganzen Raum ausfüllte. Vielleicht war es aber auch die Wohnung, die in solchen Situationen schrumpfte; auf hundertzwanzig Quadratmetern fand sich auf jeden Fall keine Ecke mehr zum Rückzug, das eigene Zuhause, Kulisse in einem David-Lynch-Film, in dem sich langsam die Decke senkt und Wände bedrohlich näherrücken.

Und dann, von einem Moment auf den anderen, war es wieder vorbei. Das wütende Wesen, das eben noch in jeden Winkel des Hauses reichte, fiel, zack, auf seine bezaubernden dreiundfünfzig Zentimeter zusammen. Ich schaute es lange an, die milchigweisse Haut, die langen Wimpern, wie sich seine Brust hob und senkte und gelangte schliesslich zur Überzeugung: Er war es nicht. Unmöglich. Dieses Engelchen kann nicht toben. Vielleicht hatten sich Halluzinogene in den Hirsekeksen versteckt, die ich im Reformhaus gekauft hatte, möglicherweise waren bewusstseinserweiternde Substanzen in den Stilltee gelangt, auf jeden Fall: Muttern muss sich den Ausbruch ihres Sohnes eingebildet haben.

Es ist doch schon so, wenn man Kinder bekommt: Von all den Modellen und Konzepten, die sich im Familienalltag als untauglich erweisen, gehören Raum und Zeit zu den ersten, die wir uns schenken können. Man könnte schwören, dass das Kind gerade eine Dreiviertelstunde gebrüllt hat, doch schaut man auf die Uhr: Ah, sieben Minuten. Achthundert Meter bis zum Supermarkt mit zwei Kleinkindern im Schlepptau? Eine ehrgeizige Strecke, auf die man sich gründlich vorbereitet haben will. Dafür fühlt sich dann ungestört Duschen als frischgebackene Mutter so an wie eines dieser Wochenenden, für die man früher extra nach Vals fahren musste. Und irgendwann, da schaut man auf den Kalender und denkt, zack, vier Jahre vorbei. Verrückt, dieses Elternsein.

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Journalistin und Mutter von zwei Söhnen, beides furchtbar gerne. Mit Mann und Kindern 2014 von Zürich nach Lissabon gezogen. Schreibt ihre Texte im Café und findet auch sonst, dass es das Leben ziemlich gut mit ihr meint.<br><a href="http://uemityoker.wordpress.com/" target="_blank">uemityoker.wordpress.com</a> 


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