
Meinung
Ist Marvel am Ende? Ein Erklärungsversuch
von Luca Fontana
«Thunderbolts» sollte ein Füllerfilm sein – und wird zum Befreiungsschlag für das Marvel Cinematic Universe, das seine Richtung verloren hatte. Rau, ehrlich, kaputt – und genau deshalb stärker als vieles, was zuletzt kam.
Keine Sorge: Die folgende Filmkritik enthält keine Spoiler. Ich verrate dir nicht mehr, als ohnehin schon bekannt und in den Trailern zu sehen ist. «Thunderbolts» startet am 1. Mai im Kino.
Noch bevor der erste Dialog gesprochen wird, erzählt uns «Thunderbolts» alles, was wir wissen müssen. Die ikonische Marvel-Fanfare ertönt – und zerbricht. Instrument um Instrument fällt weg. Was bleibt, ist Stille. Eine Leere, die schwer auf den Schultern lastet. Eine Schwärze, dunkler als die Dunkelheit selbst. Genau da, in dieser klaffenden Wunde, setzt «Thunderbolts» an.
Damit hätte ich nicht gerechnet.
Als Marvel «Thunderbolts» ankündigte, wirkte es wie ein Lückenfüller: ein Film über Figuren, die niemand wirklich auf der Wunschliste hatte. Yelena? Ghost? Walker? Red Guardian? Sympathisch, klar. Aber Hauptfiguren?
Und doch: Was ich gesehen habe, ist kein müder Versuch, Nebenfiguren aufzupeppen. Es ist eine verdammt starke Rockband, die zusammenfindet. Ein Film, der Spass macht, wehtut und heilt – oft gleichzeitig. Aber vor allem einer, der Marvels Kinouniversum endlich wieder Richtung gibt.
Vielleicht liegt ja darin der Schlüssel: «Thunderbolts» ist kein Hochglanzabenteuer à la «Captain Marvel» oder «Doctor Strange in the Multiverse of Madness», wo die Story zwar stark poliert und opulent inszeniert wird, viele emotionale Konflikte aber an der Oberfläche bleiben. Dieser Film ist mehr ein Höllenritt für kaputte Seelen.
Yelena Belova, Bucky Barnes, Red Guardian, Ghost, Taskmaster und John Walker – sie alle tragen mehr Ballast in sich, als sie je zugeben würden. Und sie alle werden von Valentina Allegra de Fontaine auf eine Mission geschickt, die nichts anderes ist als eine Falle. Eine Todesfalle. Für sie.
Was wie eine weitere geheime Operation aussieht, wird schnell zum Abstieg in die dunkelsten Winkel ihrer Vergangenheit. Jeder von ihnen trägt Narben, manche sichtbar, viele unsichtbar. Jeder hat Fehler gemacht, Schuld auf sich geladen, ist an etwas zerbrochen. Das macht «Thunderbolts» so stark: Der Film interessiert sich nicht dafür, was diese kaputten Helden können (was Yelena einmal erfrischend lakonisch mit «punching and shooting» auf den Punkt bringt).
Sondern dafür, wer sie geworden sind – und was sie vielleicht noch sein könnten.
Die Handlung ist dabei klug genug gestrickt, dass sie nie wie ein reines Konstrukt wirkt. Es geht nicht darum, einen MacGuffin zu jagen oder die Welt vor der hundertsten Apokalypse zu retten. Es geht um etwas viel Intimeres: ums Überleben. Nicht im buchstäblichen Sinne. Eher emotional. Wer weiss schon, ob aus Hoffnungslosigkeit nicht doch noch einmal so etwas wie ein neues Zuhause entstehen kann?
Dass ausgerechnet diese dysfunktionale Gruppe zur letzten Hoffnung wird, fühlt sich nie billig an. Keine Sekunde lang. Weil «Thunderbolts» etwas versteht, was dem MCU zuletzt oft abhandengekommen ist: Es sind nicht die Kräfte oder die Kostüme, die uns für Figuren interessieren lassen. Es sind ihre Narben. Und davon tragen diese Antihelden jede Menge.
So bleibt «Thunderbolts» nie an der Oberfläche. Hinter der rauen Schale, hinter den punchigen Sprüchen, den grossartig inszenierten Fights und dem stilsicheren Sarkasmus brodelt etwas anderes. Eine Schwärze, die sich nicht einfach wegwischen lässt.
Alle Figuren in diesem Film tragen sie in sich: diese Leere. Diese dumpfe, alles verschlingende Stille, genährt von gebrochenen Versprechen, Schuldgefühlen und unerfüllter Sehnsucht. Es ist nicht die Art von Depression, die laut um Hilfe schreit. Es ist die stille Art. Die, die einem die Energie raubt, noch bevor man es überhaupt merkt.
Gerade deshalb wirkt die Wahl des Antagonisten so stimmig: Sentry, alias Robert Reynolds, ist eine vergleichsweise junge Figur im Marvel-Universum, eingeführt Anfang der 2000er-Jahre. Seine Kräfte sind schier unermesslich – vergleichbar mit einer Million explodierender Sonnen. Doch genau diese Macht ist untrennbar mit einer dunklen Kraft in seinem Inneren verbunden: dem Void. Für jede gute Tat, die Sentry vollbringt, setzt der Void eine gleichermassen zerstörerische entgegen.
Der Held als Gefangener seiner eigenen Leere.
«Thunderbolts» macht daraus kein verstecktes Motiv und keine subtile Anspielung. Die Metapher ist offensichtlich – und genauso gewollt: Depression als Abgrund und schwarzes Loch, das Licht und Hoffnung verschlingt. Gerade darin liegt die stille Grösse des Films: Er macht keinen billigen Pathos daraus. Kein überhöhtes Melodrama. Sondern kleine Gesten, gebrochene Blicke, ein zu langes Zögern, bevor doch noch eine Hand ausgestreckt wird: «Ich bin noch da.»
Dieses fragile Gleichgewicht verkörpert niemand so eindrücklich wie Yelena Belova. Florence Pugh, einmal mehr fantastisch, macht Yelena nicht zur zynischen Actionheldin, sondern zum emotionalen Zentrum des Films. Ihre Art, die Dunkelheit zu überleben, ist nicht heroisch. Sie ist menschlich und verletzlich. Voller Trotz – und doch mit einer Wärme, die immer wieder kurz aufblitzt, gerade dann, wenn alles verloren scheint.
Vielleicht ist das die eigentliche Wahrheit dieses Films. Es geht nicht darum, die Dunkelheit zu besiegen. Sondern darum, sie auszuhalten. Ihr ein Stück weit die Stirn zu bieten. Und irgendwo, irgendwann – vielleicht ein kleines Licht darin zu finden.
Und doch verliert sich «Thunderbolts» nie in der Schwere. Trotz aller Dunkelheit, trotz aller inneren Narben bleibt da etwas Unverwechselbares: Dieses rohe, ungestüme, herzenswarme Rockband-Gefühl, das uns schon 2014 bei James Gunns «Guardians of the Galaxy» völlig unvorbereitet mitten ins Herz traf.
Nur dass sich hier nicht fünf durchgeknallte Weltraum-Abenteurer finden, sondern kaputte Misfits, die sich gegenseitig halb tragen, halb hinterfragen und darin wachsen. «Thunderbolts» ist laut, dreckig, witzig. Manchmal traurig. Oft urkomisch. Immer ehrlich. Und so chaotisch, dass es fast schon wieder schön ist.
Vielleicht liegt das auch am schieren Talent, das hier vor und hinter der Kamera versammelt wurde. Marvel selbst hat es stolz beworben: Ein eigener Trailer feiert die Crew – «Beef»-Regisseur Jake Schreier, «Midsommar»-Star Florence Pugh, den Kameramann von «The Green Knight», die Produktionsdesigner von «Hereditary», die Filmkomponisten von «Everything Everywhere All at Once» – mit dem Etikett «Absolute Cinema».
Das ist – ’tschuldigung – f*cking genial.
Wieso? Weil’s ein herrlicher Schuss vor den Bug von Regie-Legende Martin Scorsese ist. Der bezeichnete Marvels Superheldenfilme ja einst «als Freizeitpark-Attraktionen, aber nicht als echtes Kino.» Daraus entstand das Meme «absolute cinema», eine ironische Antwort auf genau diese Kluft: eine augenzwinkernde Würdigung von Popkultur, die nie so ernst tut, wie sie ist – und gerade darin manchmal echter wirkt als jeder hochtrabende Kunstanspruch.
«Thunderbolts» spielt in diesem Trailer genau auf dieser Klaviatur. Unverblümt. Frech. Ungezähmt. Ich feiere das.
Und ja – man spürt diese DNA. Diese Ecken und Kanten, die «Thunderbolts» zu etwas machen, das weit weg ist vom üblichen Blockbuster-Glanz. Genau das, dieses wilde, ungeschliffene Herz, schlägt auch hier. Wenn Yelena einen trocken-zynischen Spruch abfeuert, wenn Red Guardian in voller Midlife-Crisis zwischen Heldentum und Selbstironie pendelt oder wenn der Winter Soldier einfach nur irgendwie klarkommen will – dann fühlt sich das nicht geschrieben an.
Es fühlt sich gelebt an.
Wie eine verdammt laute, verdammt kaputte, aber verdammt liebenswerte Rockband, die die Bühne stürmt, auch wenn keiner sie gerufen hat. Genau deshalb will man mit ihnen abstürzen. Und wieder aufstehen.
Als Marvel «Thunderbolts» im Sommer 2022 ankündigte, klang es nach einem Füllerfilm. Ein Sammelsurium vergessener Nebenfiguren, irgendwo zwischen Verlegenheit und Pflichtgefühl. Doch was ich bekommen habe, ist etwas völlig anderes: einen Film voller Narben, voller Trotz, voller Herz. Etwas, das wagt, wo andere nur behaupten, und lebt, wo andere bloss funktionieren.
«Thunderbolts» ist der Sound einer kaputten Rockband, die trotzdem weiterspielt. Und er gibt dem MCU endlich das zurück, was ich mir schon von «Captain America: Brave New World» erhofft hatte, aber enttäuschenderweise nicht einmal annähernd bekommen habe: eine Richtung. Eine Bewegung nach vorn. Einen Grund, sich auf das nächste Kapitel zu freuen.
Nach diesem Film weiss ich wieder, warum ich diese Welt liebe. Warum mich das MCU über zehn Jahre lang fasziniert hat. Und vielleicht, ganz vielleicht, weiss es Marvel jetzt auch endlich wieder.
Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.»