Produkttest

Vivo Nex S: Das Biest aus China

Alle reden sie nur über die ausfahrbare Kamera. Da hören für die meisten die Fragen zum Vivo Nex S schon auf. Als ob es nicht mal interessieren würde, ob die Kamera gute Bilder macht. Gut, dass ich weitere Fragen gestellt und Antworten gefunden habe.

Das Vivo Nex S kommt mit einer Menge Vorschusslorbeeren. Der Formfaktor sei revolutionär innovativ und zukunftsweisend, heisst es unter anderem im Marketingsprech. Damit meinen die Sprechenden die ausfahrbare Kamera oben. Denn wenn du ein Selfie machen willst, dann fährt die Kamera oben innerhalb einer Sekunde aus und du blickst dich an. Wenn du die Kamera deaktivierst, dann fährt sie wieder ein.

Damit behebt Vivo kurzerhand das Problem mit dem Notch, also der Einbuchtung für die Kamera und dergleichen, am oberen Bildschirmrand.

So. Fertig. Wer braucht schon den Rest des Reviews? Denn damit ist es laut der Weltöffentlichkeit getan.

Vivo Nex S (128 GB, Black, 6.59", Dual SIM, 12 Mpx, 4G)
Smartphone

Vivo Nex S

128 GB, Black, 6.59", Dual SIM, 12 Mpx, 4G

Für mich aber nicht. Denn Selfie Cams interessieren mich nicht die Bohne. Ich habe in meinem Leben vielleicht etwa ein Dutzend Selfies gemacht und noch nicht einen Video Call. Daher interessiert mich alles bis auf die ausfahrbare Kamera. Diese wird zwar schon noch zum Zuge kommen, aber aus der Feder von Videoproduzentin Stephanie Tresch, die ich hiermit einfach mal zur Selfie Queen ernenne.

Die rohe Leistung unter der Haube

Das Vivo Nex S muss sich nicht hinter der ausfahrbaren Kamera verstecken. Wenn du dir die Specs ansiehst, dann merkst du schnell, dass Vivo locker hätte so kommunizieren können: «Das ist unser Phone… und, übrigens, die Kamera fährt aus».

Mit dem Snapdragon 845 System-on-a-Chip gehört das Nex S zu den fortschrittlichsten Phones im aktuellen Jahr. Dazu packt der chinesische Hersteller 8 GB RAM unter die Haube, was noch nie dagewesene Geschwindigkeit verspricht. Ob Vivo dieses Versprechen einlöst oder nicht, bemerkst du in der Alltagsnutzung aber nicht. Denn irgendwo bei der 6-GB-Grenze vermute ich einen Punkt, an dem du als normaler Nutzer noch nichts von der hohen Systemleistung bemerken wirst, mit Ausnahme von einer etwas höheren Belastungsgrenze vielleicht.

Schneller kommt mir das Nex S wegen der 8 GB nicht vor. Das kann aber auch daran liegen, dass Animationen und dergleichen in Apps immer von der App aus definiert werden. Sie dauern immer genau gleich lang, wenn das System dahinter die von der Software vorgegebene Definition erfüllen kann. WhatsApp wird immer genau gleich lang haben, um den Profilbildschirm deines Gesprächpartners zu öffnen, es sei denn, dein Handy ist langsam und alt.

Die ausfahrbare Kamera ist nicht das einzige, womit das Nex S glänzt

Aber das mit der Belastungsgrenze merke ich. Wie schon bei 6-GB-Phones gibt es aktuell auf dem Markt noch nichts, das in irgendeiner Form das Nex S langsam werden lassen kann. Viele Apps sind schlicht noch nicht darauf ausgelegt, so viele Ressourcen zur Verfügung zu haben. Wenn dein Phone nicht aus dem aktuellen Jahr stammt, dann hat es wohl nur 4 GB. Auf diesen Phones soll alles flüssig laufen. Daher wissen Apps noch nicht, was sie mit sechs oder acht Gigabyte RAM alles anfangen können.

Dennoch: Es ist schön, ein Phone zu haben, bei dem ich keine Angst haben muss, dass es in einem Jahr völlig zum alten Eisen gehört.

Der notchbefreite Bildschirm und der verschwendete Platz

Das Vivo Nex S kommt mit einer Benutzeroberfläche namens Funtouch daher. Die ist aber ganz und gar nicht fun. Sie macht den Fehler, den so viele chinesische Hersteller machen: Das Vivo Nex S wäre gerne so etwas wie ein iPhone. Denn aus irgendeinem Grund gilt in China das User Interface Apples als das Nonplusultra. Da Android und Apples iOS aber grundsätzlich anders aufgebaut sind, funktioniert das bei Apple gut, bei Android ist das immer so ein Gemurkse.

Dabei wäre der Bildschirm doch so schön: Amoled mit einer Bildschirmauflösung von 1080x2316 Pixeln. Da könnte so viel herausgeholt werden. Vivo will da aber nicht nach vorne preschen und fällt extrem seltsame Design-Entscheide.

Das Command Center wäre so gerne Apple
  • Der App Drawer ist komplett weg. Alle Apps werden automatisch auf einen Homescreen platziert.
  • Wenn du die Notification Area nach unten ziehst, hast du dort nur Notifications, keine Shortcuts zu Einstellungen oder Toggles, die Bluetooth und dergleichen ein- oder ausschalten.
  • Die Toggles findest du im Apple-artigen Command Center. Dazu musst du vom unteren Bildschirmrand – aber ganz unten – nach oben wischen.
  • Das App Grid auf jedem Home Screen beträgt 4x6 Apps.

Da gibt es nur eines: Nova Launcher drüberschmeissen. Das behebt zwar nicht das Ding mit dem Command Center, aber immerhin kannst du dann den Bildschirm voll ausnutzen. Der ist nämlich nicht nur hoch aufgelöst, sondern die Touch-Empfindlichkeit ist extrem hoch. Das Phone stellt kleinste Wischbewegungen fest, reagiert schnell, richtig und zuverlässig. Da so ein steinzeitliches Layout zu verwenden, grenzt schon fast an ein Verbrechen. Daher: Mit einem Custom Launcher hast du unendlich viel mehr von deinem Nex S.

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Der Fingerprint Scanner ist unter dem Glas des Phones verbaut. Wo er beim Huawei Porsche Design Mate RS noch etwas langsam und behäbig reagiert hat, ist der Scanner des Nex S einen Schritt weiter. Er ist zwar immer noch wesentlich langsamer als ein herkömmlicher Fingerabdrucksensor unten am Phone oder auf dessen Rückseite, aber ich muss nicht mehr mit Kraft auf das Phone drücken und die Entsperrung erfolgt in unter einer Sekunde. Gerne hätte ich Face Unlock, denn das System hat sich bisher auf mehreren Phones von Samsung über Huawei bis hin zu Apple bewährt. Aber da die Frontkamera nur bei Bedarf ausserhalb des Gehäuses ist, musst du beim Nex darauf verzichten.

From China with Love

Ganz ein Schlag ins Wasser ist Funtouch aber nicht. Denn die Stärken der Oberfläche zeigen sich in den Einstellungen. Selten wird dir auf einem Phone so viel Zugriff auf Ressourcen erlaubt, wie bei der Vivo'schen Version Androids. Ich kann auf einige Developer Options einfach so zugreifen. Über den Grund kann ich nur spekulieren, aber vielleicht liegt es daran, dass in China keine Google Services vorinstalliert sind und clevere User sich die Mühe machen, sich App Packages – sogenannte APKs – aus dem Netz zu suchen und diese dann manuell installieren. Das würde auch die prominente Platzierung des VPN-Menüpunktes erklären.

Vivo lässt zu, dass du kontrollierst, welche Apps automatisch gestartet werden
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Folgende Apps dürfen keine Systemeinstellungen verändern
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Es scheint so, als ob der chinesische Hersteller Vivo absolut keinen Bock auf die Great Firewall of China hat, dafür dem Nutzer aber möglichst viel Freiheiten geben will.

Finde ich gut. Ich stehe zwar nicht auf Beautyfilter für asiatische Gesichter in meinen Kamera-Apps oder auf Metadatensammlung im grossen Stil, aber ich bin überzeugt davon, dass die chinesische Industrie den generellen US-Zentrismus der Technologiebranche etwas aufmischen kann. So gern ich Android und iOS auch mag, sie sind etwas ausgelutscht. Wenn da jetzt ein chinesischer Hersteller einfach mal draufloswütet und irgendetwas auf den breiten Markt bringt, das Anklang findet, dann merken die Grossen des Marktes vielleicht, dass da ein Feature oder zwei fehlen könnten.

Die Einstellungen aber haben es in sich, wenn es denn um die Benutzung geht. Glücklicherweise musst du die meisten dieser Einstellungen nur einmal vornehmen, denn sonst wäre das defintiv zu mühsam.

  • Die Abkürzung zu den Einstellungen findest du im Command Center links neben dem Helligkeitsregler. Genau dort, wo du sie sicher nicht vermuten würdest.
  • Du musst jede App einzeln verwalten, wenn es um Notifications geht. Per Default sind allen Apps alle Berechtigungen auf deine Notification Area gegeben.
  • Es gibt Subsettings zu einzelnen Einstellungen.
  • Es gibt keine Einstellungssuche.

Wenn du also so wie ich gerne etwas restriktiver bist, wenn es um Notifications geht, dann nimm dir doch einen Moment Zeit und geh deine Apps durch. Das geht zwar kaum länger als 15 Minuten wenn du moderat viele Apps hast, aber trotzdem, via Batch Management ginge das wesentlich schneller.

Auf der anderen Seite

Obwohl auch das Nex S im Wesentlichen ein Rechteck mit abgerundeten Ecken ist, so lohnt sich der Blick auf die Rückseite. Dort haben die Leute von Vivo bewiesen, dass sie nicht einfach nur den Platzhirschen Samsung imitieren und dazu noch ein bisschen Apple sein wollen, sondern dass sie ein Design Statement zu machen haben und das auch können. Als Samsung im vergangenen Jahr mit schimmernden Farbwechseln mit dem S8 in Orchid Grey dahergekommen ist, sind etliche Hersteller nachgezogen. Das aktuelle Honor-Flaggschiff schimmert in etwa 30 Farbtönen und macht so einen auf aggressiven Blickfang.

Dem Trend stellt sich das Nex S entgegen. Auf den ersten Blick wirkt die Rückseite schwarz. Doch wenn du sie ins Licht hältst, dann siehst du eine Art Regenbogeneffekt. Dieser ist vergleichbar mit dem Blick in einen Röhrenfernseher, auf dem die Bildschirmpunkte bei genauem Hinsehen nicht eine Farbe haben, sondern aus mehreren zusammengesetzt sind.

Die Rückseite des Nex S schimmert weit subtiler als die Konkurrenz

Wo andere Phones auf aggressives Geflimmer setzen, macht hier Vivo einen netten und vor allem willkommenen Kontrapunkt.

Die nicht ausfahrbaren Kameras

Die Dual Cam auf der Rückseite liefert 12 Megapixel mit einer Blende von f/1.8. Damit liegt das Nex S hinter dem Spitzenreiter, dem Huawei P20 Pro, zurück, macht aber ordentliche Bilder. Die zweite Kamera sorgt für den Tiefenunschärfeeffekt und liefert 5 Megapixel mit f/2.4. Ist okay.

Die Testshots wirken etwas blass, aber ich nörgle auf hohem Niveau

Die Kamera denkt extrem viel mit und fällt eigenständige Entscheide, die ich manchmal etwas seltsam finde. So pegelt sie die Farben in einer Umgebung, die im Wesentlichen aus Grautönen besteht, herunter und lässt die Personen trotz HDR Preset blass und leblos aussehen. Den Beauty-Modus, den Chinesen gerne mögen, musst du aber ausschalten, es sei denn, du willst künstlich rosig auf deinem Instagram-Profil erscheinen.

Jetzt, wo ich die Passage oben noch mal durchlese, kommt es mir so vor, als ob ich die Kamera verteufle. Nein, dem ist nicht so. Ich beschwere mich – wie bei so ziemlich allem am Vivo Nex S – auf sehr hohem Niveau, aus der Position eines Typen, der viele Smartphones kennt, benutzt und eigentlich nur will, dass jedes Phone sein Potenzial möglichst ausnutzt.

Jetzt aber: Die Selfie Cam

Kommen wir nun zu dem Ding, auf das die Welt sich fokussiert: Die Selfie Cam. Wenn du in der Kamera-App die Kamera von der Hauptkamera auf die Frontkamera änderst, dann fährt oben automatisch die Selfie Cam aus. Hinten, unter der Rückenplatte ist ein Motor verbaut, der eine Schraube ein- und ausdreht, an der das Selfiekamerasystem befestigt ist.

Dem System wird durch eine Feder eine gewisse Stosssicherheit beschieden. Dazu ein Sensor, der Druck auf die Selfie Cam misst und sie bei zu viel Druck einzieht. Zudem hat Vivo softwareseitig Mechanismen verbaut, die die ausfahrbare Kamera schützen. Wenn Druck auf die Kamera ausgeübt wird, fährt sie ein, genau wie wenn der Bildschirm ausschaltet. Von voll eingefahrener Position bis zur Betriebsbereitschaft dauert es nur ein Mü mehr als eine Sekunde. Andere Phones sind da zwar schneller, aber nicht eleganter.

Das Nex S mit ausgefahrerener Kamera

Da ich in Punkto Selfie Cam kaum Erfahrung habe und wohl mich nie länger mit einer Selfie Cam beschäftigt habe als mit der des Vivo Nex, habe ich Videoproduzentin Stephanie Tresch, eine Gelegenheits-Selfie-Schiesserin, um ihre Meinung gefragt.

Stephanie Tresch, wie sie die ausfahrbare Selfie Cam sieht

Die Selfie Cam macht was sie verspricht: Selfies. Was mich etwas irritiert, ist der krasse Blaustich in den Videos, den ich auf die Schnelle nicht herausbekomme. Allenfalls mit etwas mehr Zeit schon. Die Fotos sind ganz in Ordnung, auch die Schärfe überzeugt mich. Wenn du reinzoomst, sind meine Augen immer noch so scharf, dass es für Instagram und andere soziale Medien mehr als ausreicht.

Ein Ausschnitt des Selfies

Was fast etwas unanständig ist: Auf allen Bildern komme ich mir aufgehellt und blonder vor, auch ohne Beauty Filter. Zudem scheint die Kamera mir in Haut und Haar einen Rotstich zu verpassen. Der einzige wirkliche heftige Kritikpunkt ist für mich, dass du keinen Auslöser auf der Seite hast, für kleine Hände wie meine absolut fatal. Wenn dir das nichts ausmacht, bist du mit dem Nex S gut bedient.

Falls du Angst hast, die Selfie Cam breche ab: ich habe das Phone mehrmals absichtlich auf die Kamera fallen lassen und sie tut noch ihren Job, ohne zu meckern.

Weit mehr als nur ein Gimmick

Zeit für ein Fazit. Das Vivo Nex S leistet viel. Sehr viel. Der Verdacht, dass Vivo versucht, irgendetwas zu verstecken, indem das Unternehmen den Fokus auf die ausfahrbare Kamera zieht, lässt sich selbst bei allem bösen Willen nicht erhärten. Das System leistet viel, ist schnell und der 4000-mAh-Akku sollte auch einiges hergeben.

Einzig das Layout der Funtouch-Oberfläche müsste dringend verbessert werden, denn das Teil ist altbacken und versucht krampfhaft, Apple zu sein. Mit so einer Leistung und solcher Hardware hat das Nex S das nicht nötig. Mit diesen Specs kann das Gerät im Wesentlichen tun und lassen, was es will, so lange es nicht derivativ ist. Das wird aber wettgemacht, indem die Einstellungen tiefere Eingriffe ins System zulassen als das manch eine andere Android Distro tut.

Die Hauptkameras sind solide, werden aber nie einen Preis gewinnen. Vor allem an der Intelligenz, die bei den Bildern mitrechnet, muss noch gefeilt werden, denn die pegelt etwas zu streng und rupft je nach Licht und Umgebung Farben dort aus dem Bild, wo sie wirklich sein sollten.

So. Fertig. Übrigens: Das Vivo Nex S war das offizielle Phone der diesjährigen Fussball-Weltmeisterschaft, von der keiner mehr spricht.

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Journalist. Autor. Hacker. Ich bin Geschichtenerzähler und suche Grenzen, Geheimnisse und Tabus. Ich dokumentiere die Welt, schwarz auf weiss. Nicht, weil ich kann, sondern weil ich nicht anders kann.


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