Meinung

Zum 10. Geburtstag meines Sohnes: 10 Dinge, die ich mir völlig anders vorgestellt habe

Martin Rupf
12.1.2023

Kürzlich wurde mein Sohn zehn Jahre alt. Ich nehme den runden Geburtstag zum Anlass, Bilanz zu ziehen. Diese zehn Dinge sind ziemlich anders rausgekommen, als ich mir das vor gut zehn Jahren vorgestellt habe.

Immer wenn eines meiner Kinder Geburtstag feiert, denke ich – mit einer Mischung aus Wehmut und Dankbarkeit – an den Tag der Geburt zurück. Das war neulich nicht anders, als mein Sohn seinen ersten runden Geburtstag feierte.

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Ich lasse daher die letzten zehn Jahre Revue passieren. Den Fokus lege ich dabei auf Vorstellungen und Erwartungen, die sich so überhaupt nicht oder wenn, dann nur marginal, erfüllt haben. Du kennst das bestimmt selber. Bevor dein erstes Kind zur Welt kommt, malst du dir das Leben als Elternteil und Familie bereits in allen möglichen Schattierungen aus. Das sind Fragmente aus Erinnerungen, Erzählungen und Wunschvorstellungen.

Du wirst mir wohl recht geben, dass die Realität diesen Vorstellungen nicht zwingend entsprechen muss oder zumindest von diesen abweicht. Zum zehnten Geburtstag meines Sohnes hier meine zehn persönlichen Irrtümer und Aha-Erlebnisse.

1. Die Zeit läuft nicht schnell, sie rast!

Wie oft habe ich vor der Geburt von anderen Eltern zu hören bekommen: «Geniess jeden Moment mit deinen Kindern. Ehe du dich versiehst, sind sie gross.» Tatsächlich nahm ich mir das zu Herzen und versuchte, jede Sekunde zu geniessen. Doch je älter die Kinder wurden – knapp zwei Jahre nach unserem Sohn kam unsere Tochter zur Welt –, desto schwieriger wurde das mit dem Geniessen. Spätestens als beide Kinder in die Schul-, und Hobbymühlen geraten waren und ein Zahnrädchen ins andere greifen musste, lief die Zeit immer schneller. Auch wenn das Sprichwort «die Zeit rast» abgedroschen erscheinen mag: Dass sie tatsächlich so krass rast, hätte ich mir nicht vorstellen können.

2. Die biologischen Wurzeln sind doch wichtiger, als ich dachte

Ich bin adoptiert und hatte das Glück, von sehr liebevollen und guten Eltern – ich habe sie nie Stief- oder Adoptiveltern genannt – adoptiert worden zu sein. Vielleicht auch deshalb, war die Frage nach dem «Woher» bei mir lange nicht sehr ausgeprägt. Selbst als ich erfuhr, dass meine leibliche Mutter leider schon verstorben war, als ich sie suchte, und mein Vater nicht auffindbar war, fiel es mir relativ leicht, dies zu akzeptieren. Vielleicht half auch die Tatsache, dass ich meinen leiblichen Halbbruder gefunden hatte. Aber vor allem hatte ich ja mit meinen Eltern und meiner ebenfalls adoptierten Schwester eine intakte Familie. Und so war die Frage nach meinen Wurzeln irgendwie nie präsent – bis zur Geburt meines Sohnes. Sein eigen Fleisch und Blut das erste Mal in den Händen zu halten, ist für alle Eltern eines der schönsten und einschneidendsten Erlebnisse. In meinem Fall war das wohl noch ein Tick spezieller. Zum ersten Mal hatte ich eine Beziehung zu einem Menschen, der biologisch komplett mit mir verwandt ist. Erst seit ich diese Beziehung zu meinen zwei Kindern habe, merke ich, wie wichtig die biologischen Wurzeln sind.

3. Mein Sohn mag keine Ballsportarten – na und?

Ob Unihockey, Handball, Tischtennis oder Fussball: Ich bin ein Ballsportler durch und durch. Sehe ich einen Ball, will ich sofort mit diesem spielen. In meinen Vorstellungen sah ich mich – wie in kitschigen US-Filmen – schon mit meinem Sohn Baseball oder Fussball spielen. Doch ganz offensichtlich haben es die Ball-Gene bei der Fortpflanzung nicht bis zu meiner Frau geschafft. Denn bis zum heutigen Tag ist mein Sohn mit einem Ball am Fuss etwa so geschickt wie ein Sumo-Ringer auf einem Hochseil. Stattdessen interessiert sich mein Sohn für Tanzen oder fürs Theater-Spiel. Doch nicht nur seine Vorlieben hatte ich so nicht erwartet. Positiv überrascht bin ich auch über mich selbst. Denn bis zum heutigen Tag habe ich nie versucht, meinen Sohn zu einem Ballsportler zu erziehen. Klar: Hin und wieder nehme ich einen Anlauf, ihn etwa für Unihockey zu motivieren. Bis jetzt ohne Erfolg, was mich aber nicht weiter betrübt.

4. Wieso kann Lars, was mein Sohn nicht kann?!

Nicht ganz so entspannt bin ich, wenn es um Vergleiche mit anderen Kindern geht. In meiner Vorstellung malte ich mir aus, wie mich Vergleiche mit anderen Kindern kalt lassen und es mir schlicht egal ist, wenn der gleich alte Nachbarsbub Dinge kann, von denen mein Sohn noch nicht mal zu träumen wagt. Herausgekommen ist es aber anders. Beispiel Nummer eins: Vor Kurzem erzählte mir mein Bruder, sein Sohn habe lauter Sechsen im Zeugnis. «Wieso hat mein Sohn keine einzige Sechs», schoss es mir durch den Kopf. Beispiel Nummer zwei: Das Nachbarsmädchen ist viel mutiger und konnte auch eher Velo fahren als mein Sohn. Ich tat so, als würde ich den Stolz ihres Vaters teilen. In Wirklichkeit war ich ein bisschen eifersüchtig. Beispiel Nummer drei: Während mein Sohn auf Skis eher zögerlich die Piste runterfährt, wird er gerne mal von deutlich jüngeren Kinder in der Hocke überholt. «Was habe ich in der Ski-Erziehung nur falsch gemacht», denke ich mir. In all diesen Situationen schäme ich mich innerlich, dass ich mein Konkurrenzdenken auf meinen Sohn projiziere.

5. Die Krux mit der (ständigen) Vorbild-Rolle

Wahrscheinlich hast auch du dir ausgemalt, wie du als Mutter oder Vater Vorbild sein möchtest für deine Kinder. Und aus zahlreichen Ratgeber-Lektüren wissen wir auch, dass sich das Vorbild-Sein nicht durch Heldentaten definiert, sondern durch die alltäglichen Handlungen und Vor-Leben.

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Doch schnell musste ich einsehen, dass das mit dem Vorbild-Sein gar nicht so einfach ist. Im Gegenteil: Wenn ich ganz ehrlich bin, bin ich wohl öfters ein schlechtes, denn ein gutes Vorbild. Ich fluche viel zu oft und gerne, ich bin äusserst impulsiv und kann auch mal laut werden und mich im Ton vergreifen. Viel zu oft bin ich zudem gestresst und ungeduldig. Und ich darf mich in ein paar Jahren bei meinen Kindern nicht beschweren, wenn sie die ganze Zeit am Handy hängen, haben sie doch eben dies von ihrem Vater abgeguckt.

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Natürlich sollte man den Vorsatz, Vorbild zu sein, nie aufgeben. Und wahrscheinlich ist es auch so, dass man eher die Defizite sieht und alles, was gut läuft, gar nicht bewusst wahrnimmt. So oder so hilft mir am Ende immer der Satz: «Gerade indem ich nicht immer Vorbild sein kann, also nicht perfekt bin, bin ich meinen Kindern ein Vorbild.»

6. «Wenn du nicht sofort dein Zimmer aufräumst, dann war’s das mit Fernseh-Schauen»

Als werdender Elternteil hast vielleicht auch du vor der Geburt deines ersten Kindes Fachliteratur gelesen, um ein paar Ratschläge und Tipps zur richtigen Erziehung deiner Kinder zu erhalten.

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Einer der Grundsätze, der dann zu einem meiner Vorsätze mutierte, war der, dass man seine Kinder nicht mit Drohungen erziehen und zu Tätigkeiten oder Unterlassungen motivieren sollte. Ich weiss nicht, wie oft ich diesen Vorsatz schon gebrochen habe. Wie schnell lässt man in der Hitze des Gefechts Sätze wie «Wenn du nicht sofort dein Zimmer aufräumst, dann war’s das heute mit Ferseh-Schauen» raus. Das Dumme: Kurzfristig entfalten solche Drohungen – Schlaumeier nennen es gerne Konsequenzen – tatsächlich ihre erhoffte Wirkung. Doch längerfristig dürfte diese Art der Erziehung tatsächlich wenig Früchte tragen. Denn Kinder sollten nicht lernen, Dinge zu tun oder zu unterlassen, nur weil sie sich von den Konsequenzen fürchten.

7. Wenn aus dem Held plötzlich der peinliche Papi wird

Ach was denke ich gerne an die Zeit zurück, als ich der uneingeschränkte Held für meine Kinder war. Natürlich wusste ich immer, dass eines Tages der Moment kommt, wo der Lack abblättert und ich mein Super-Hero-Image nicht länger aufrechterhalten kann. Doch dass ich bei meinem Sohn so schnell das Prädikat «peinlich» verpasst bekomme, hätte ich nicht gedacht. Mittlerweile gibt es gar nicht mehr so viele Situationen, in denen mich mein Sohn nicht peinlich findet. Am allerschlimmsten ist es für ihn, wenn ich auf die peinliche Idee komme, ihn von der Schule abzuholen. Da kann ich mir noch lange einreden, dass ich doch ein cooler, jung gebliebener Vater bin. Ganz offensichtlich sieht mein Sohn das anders.

8. Kinder halten dir den Spiegel vor. Wieso gefällt mir nicht, was ich sehe?!

Kinder zu haben, ist wie eine Reise, bei der man nie weiss, was als Nächstes auf dich zukommen wird. Vor allem aber ist es eine Reise, welche dir die einmalige Chance gibt, dich zu verändern – im Idealfall zum Guten. Denn Kinder halten ihren Eltern gnadenlos den Spiegel vor. Können sie auch, da sie sich der bedingungslosen Liebe durch ihre Eltern gewiss sind und ergo nichts zu befürchten haben. Dass auch meine Kinder mich spiegeln werden, habe ich mir schon gedacht. Dass dies mitunter aber so nervig und schmerzhaft sein kann, hätte ich mir nicht vorgestellt. Wieso kann sich mein Sohn einfach nicht an Regeln halten?! Hm, könnte es daran liegen, dass ich es selber mit Vorschriften nicht so genau nehme? Wieso muss meine Tochter immer gleich so aus der Haut fahren, wenn ihr etwas nicht passt? Gaaaaanz sicher liegt das nicht an mir, der doch immer so tiefenentspannt und ausgeglichen ist. Ist es zu viel verlangt, dass mein Sohn einfach mal schön isst?! Ja, eventuell schon, wenn sein Vater sein Essen runter schlingt, als ginge es darum, einen Fress-Wettbewerb für sich zu entscheiden.

Und dass sich mein Sohn höchst ungern einen Velohelm aufsetzt, darüber brauche ich mich nun wirklich nicht zu beklagen.

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    Deshalb trag ich als Papi auf der Velotour keinen Helm

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Wenn du von deinen Kindern den Spiegel vorgehalten bekommst, hast du zwei Möglichkeiten. Entweder du nervst dich und stauchst deine Kinder zusammen. Oder aber du siehst es als Chance, dir deine schlechten Angewohnheiten abzugewöhnen und zu einer noch besseren Version deiner Selbst zu werden.

9. Wo bleibt die Gelassenheit bei Schulthemen?

Eine eiserne Regel bei der Kindererziehung lautet, dass man in deren Anwesenheit nie, aber auch wirklich nie, schlecht über Lehrpersonen, Schulleitungen oder den Inhalt von Hausaufgaben sprechen sollte. Denn wenn schon wir Eltern keinen Respekt vor der Institution Schule und deren Angestellten haben, wie sollen wir das von unseren Kindern verlangen? Hier muss ich ganz offen und schonungslos ehrlich sein. Diese Regel habe ich schon so oft gebrochen, dass es schon fast an ein Wunder grenzt, dass meine Kinder immer noch gerne in die Schule gehen und gewissen Lehrpersonen nicht rotzfrech den Stinkefinger zeigen. So ist es schon vorgekommen, dass ich mir anmasste, einer Lehrerin zu schreiben, wie sinnlos die Hausaufgaben waren und welche Art von Aufgaben stattdessen Sinn ergeben würden.

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Auch kam es schon mehr als einmal vor, dass ich mich abschätzig über eine Lehrperson geäussert habe. Dass es diese auch verdient hat, macht die Sache nicht besser. Last but not least wurden wir letzten Sommer bei der Schulleitung vorstellig, weil wir mit der Klasseneinteilung unseres Sohns nicht einverstanden waren. Die Einteilung war zwar tatsächlich nicht nachvollziehbar. Aber hatte ich mir nicht mal vorgenommen, mich bei Schulthemen in Zurückhaltung zu üben?

10. Liebe, so weit das Auge reicht

Achtung: Zum Abschluss wird es richtig kitschig. Natürlich ahnte ich, dass Kinder-Haben den Begriff der Liebe neu definieren wird. Doch dass Liebe so allumfassend sein kann, dass es manchmal fast ein bisschen weh tut, hätte ich mir nicht vorstellen können. Und das Allerbeste daran: Es ist Liebe, die auf Gegenseitigkeit beruht. Ich empfinde so viel Liebe für meine Kinder, dass sich damit ein Heissluftballon füllen liesse. Umgekehrt darf ich von meinen Kindern, ob ich nun peinlich bin oder nicht, so viel bedingungslose Liebe empfangen, wie ich es mir in meinen schönsten Träumen nicht hätte vorstellen können.

Welche Überraschungen warten in den nächsten zehn Jahren auf mich?

So, jetzt weisst du, in welchen zehn Dingen ich mich getäuscht habe und wie mich die letzten Jahre mit meinen Kindern eines Besseren belehrt haben. Ich bin schon jetzt gespannt, wie meine Bilanz in zehn Jahren ausfällt. Dann, wenn mein Sohn seinen 20. Geburtstag feiert. Nur zwei Dinge weiss ich ganz gewiss. Während die Liebe gleich gross bleiben wird, werde ich für meinen Sohn an Peinlichkeit wohl nicht mehr zu übertreffen sein. Aber diesen Preis zahle ich gerne für das Wertvollste überhaupt – meine Kinder.

Titelfoto: Martin Rupf

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Zweifachpapi, nein drittes Kind in der Familie, Pilzsammler und Fischer, Hardcore-Public-Viewer und Halb-Däne. Was mich interessiert: Das Leben - und zwar das reale, nicht das "Heile-Welt"-Hochglanz-Leben.


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