
Hintergrund
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von Martin Jungfer
Über 100 Millionen Aufrufe zählt der Hashtag #brownnoise auf TikTok. Seit Sommer 2022 schwören besonders Menschen mit ADHS auf die beruhigende Wirkung des sanft brummenden «roten Rauschens». Zeit zu klären, was es mit dem Trend auf sich hat.
Ein dumpfes, dichtes Rauschen sorgt auf Social Media für großes Aufhorchen. Dabei bietet der unaufgeregte Sound viel Interpretationsspielraum: Für manche klingt es wie eine Flugzeugturbine, andere erinnert es an einen Raumluftbefeuchter. Wieder andere an das Meeresrauschen oder an einen Wasserfall in weiter Entfernung.
Die Rede ist von Brown Noise – zu Deutsch meistens: rotes Rauschen. Auf TikTok ist der Klangteppich seit Sommer 2022 Trend. Unter dem Hashtag #brownnoise haben sich bereits 106 Millionen Klicks gesammelt – und zwölfstündige Brown Noise Videos auf YouTube werden millionenfach aufgerufen. Insbesondere unter TikTok-Userinnen und -Usern der ADHS-Gemeinschaft geht das rote Rauschen viral. Sie sprechen dem schummrig-tiefen Rauschen eine Vielzahl positiver Effekte zu: Es soll etwa einen besseren Fokus, ruhigere Gedanken, verbessertes Einschlafen oder das Verstummen von Tinnitus bewirken. Eine Userin schreibt in ihr Video: «Ich kann nicht aufhören zuzuhören – in meinem Kopf war es noch nie so still.»
Aber was genau ist rotes Rauschen? Wie unterscheidet es sich von seinem bekannteren Cousin weißes Rauschen (White Noise)? Und was sagt die Wissenschaft: Hat das Geräusch tatsächlich das Potenzial, Erleichterung bei ADHS, Konzentrationsstörungen oder Schlafproblemen zu bringen?
Warum heißt es eigentlich «Brown Noise», respektive: rotes Rauschen? Oder rosa oder weißes Rauschen? Es ist so: Das menschliche Ohr kann eine gewisse Bandbreite an Frequenzen wahrnehmen. Frequenzen, die die Hörschnecke im Innenohr zum Vibrieren bringen. In der Wissenschaft hat man sich schließlich darauf geeinigt, diese Bandbreite an hörbaren Frequenzen nach Farben zu benennen: Je nach Intensität der hohen und tiefen Frequenzen eines Tons oder Geräuschs, spricht man vom weißen, rosa, violetten, grauen oder eben vom roten Rauschen.
Dass Menschen Geräusche dafür nutzen, den Fokus zu schärfen oder das Einschlafen zu unterstützen, ist nichts Neues. Eltern lesen ihren Kindern Schlafgeschichten vor und auf YouTube sammeln sich ganzen Kanäle mit mehrstündigen Lernmusik-Videos. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis auch abstrakte Geräuschteppiche, wie das rote Rauschen, ihre Steilkarriere von der akustischen Nische zum TikTok-Star machten. Aber was genau ist eigentlich rotes Rauschen?
Woher die Idee kommt, Frequenzen nach Farben zu benennen, ist nicht genau bekannt. Brown Noise hat seinen Namen jedenfalls nicht von der Farbe, sondern von dem schottischen Botaniker Robert Brown. Er erkannte, wie Pollenkörner in Flüssigkeit unter dem Mikroskop ruckartig «tanzten» und nannte seine Beobachtung «Brownsche Bewegung.» So willkürlich wie die Bewegung der Pollenkörner, werden auch die Frequenzen des Rauschens wahrgenommen.
Rotes, weißes und rosa Rauschen unterscheiden sich in der Intensität ihrer Frequenzen. Beim roten Rauschen etwa werden die hohen, eher unangenehmen Frequenzen gedimmt, während tiefe Frequenzen verstärkt werden. So entsteht ein tiefes, ruhiges und leise grollendes Rauschen, das an eine Windböe oder einen nahegelegenen Fluss erinnert.
Bei weißem Rauschen werden alle Frequenzen in gleicher Intensität abgespielt. Das verleiht dem Rauschen einen hohen, hissenden Klang und erinnert an einen Röhrenfernseher mit Empfangsschwierigkeiten. Weißes Rauschen wird von vielen als unangenehm empfunden, da die hohen Frequenzen irritierend wirken können.
Rosa Rauschen spielt sich schließlich irgendwo zwischen weißem und rotem Rauschen ab. Hohe Frequenzen werden nur leicht reduziert und tiefe Frequenzen verstärkt. Somit hat rosa Rauschen weder den hissenden Klang des weißen, noch den grollenden Klang des Roten Rauschens, sondern pendelt sich in der akustischen Mitte ein. Es erinnert an sanften Regenfall.
Ihnen allen (und verwandten Farbgeräuschen wie graues oder violettes Rauschen) werden positive Effekte auf Konzentration, Schlaf und Entspannung zugesprochen. Schwarz auf Weiß belegt wurden diese Effekte bisher vor allem für weißes Rauschen.
Es hat einen Grund, weshalb inbesondere TikTok-Userinnen und -User mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätsstörung) millionenfach auf den Trend #brownnoise aufgesprungen sind. In der Wissenschaft geht man davon aus, dass – egal ob weißes oder rotes Rauschen – der Klangteppich akustische Störgeräusche in den Hintergrund rücken lässt und man deshalb besser klare Gedanken fassen kann.
Der Wissenschaftler Göran Söderlund von der Western Norway University of Applied Sciences hat 15 Studien zu den Effekten von weißem Rauschen auf Menschen mit ADHS durchgeführt und kommt zu dem Schluss: Die positiven Effekte der unterschiedlichen Farbgeräusche gehen weit über die bloße Übertönung von Störgeräuschen hinaus.
Söderlund zeigte in einer seiner Studien deutlich positive Effekte von weißem Rauschen auf die Lesefähigkeit und Gedächtnisleistung von Kindern mit Leseschwäche. Andere Studien untermauern seine Ergebnisse, etwa das Ergebnis der Forschenden unter Ephraim Rosalez in ihrer Studie, publiziert im Fachjournal Child & Family Behavior Therapie: Demnach fördere weißes Rauschen die Konzentrationsfähigkeit von Kindern mit ADHS.
Ähnliche Ergebnisse zeigten sich wenige Jahre später im International Journal of Environmental Research and Public Health. Kinder mit ADHS einer Untersuchungsgruppe mussten Aufgaben unter weißem Rauschen, mit Musik und ohne Geräuschkulisse lösen. Das Ergebnis auch hier: Die Kinder konnten sich am besten während des weißen Rauschens konzentrieren, während der Fokus im stillen Klassenzimmer, ohne akustischen Stimulus, am schwächsten war.
Weshalb der Klangteppich besonders von Menschen mit ADHS als angenehm und konzentrationsfördernd empfunden wird, könnte in ihrer Anatomie liegen. Söderlund erwähnt in einer seiner Studien, Menschen mit ADHS hätten stärkere Reaktionen des Gehirnstamms auf akustische Reize. Durch eine monotone Geräusch-Exposition könnten diese Reaktionen beruhigt werden.
Aber auch für Erwachsene ohne ADHS können verschiedene Farbgeräusche eine konzentrationsfördernde Wirkung haben. Das zeigt eine Studie im Fachjournal Noise & Health. Dazu wurde Probandinnen und Probanden während ihrer Arbeit rotes, weißes, rosa und gar kein Rauschen vorgespielt. Die Ergebnisse sind eindeutig: Weißes, rotes und rosa Rauschen beeinflussen Gedächtnisleistung, Arbeitstempo und generelle Performance am Arbeitsplatz signifikant positiv, im Vergleich zu vollkommener Stille. Die Forschenden schließen: «Diese Erkenntnisse über Farbgeräusche können in Zukunft dafür genutzt werden, Produktivität am Arbeitsplatz zu fördern.»
Ob Geräusche jeglicher Art zum Einschlafen ratsam sind, wird kontrovers diskutiert. Dass weißes Rauschen beim Einschlafen hilft, wird von Autorinnen und Autoren einer Literaturanalyse von 38 Studien in Sleep Medicine Reviews angezweifelt. In den Ergebnissen heißt es: «Beweise, ob fortlaufende Geräusche den Schlaf verbessern, sind sehr gering.»
Zu anderen Ergebnissen kommt eine Forschungsgruppe im Journal of Theoretical Biology. Sie untersuchten den Effekt von rosa Rauschen auf die Schlafqualität und zeigten: Probandinnen und Probanden hatten einen tieferen Schlaf und fanden einen besseren Umgang mit Schlafunterbrechungen.
Farbgeräusche haben positive Effekte auf unsere Konzentration und können auch Erleichterung bei ADHS bringen. Studienergebnisse legen nahe: Eindringliche Geräuschkulissen wie weißes, rosa oder rotes Rauschen können den Fokus schärfen und das Einschlafen erleichtern.
Hingegen gibt es keine eindeutigen Beweise für Folgendes: Dass rotes Rauschen bei Stress hilft und auch die Frage, ob es einen Tinnitus zum Verstummen bringen kann, wie unter dem Hashtag #brownnoise oft angepriesen wird, ist nicht geklärt.
Generell befassen sich die meisten Studien – insbesondere zu ADHS – mit Effekten des weißen Rauschens. Diese Ergebnisse lassen sich jedoch nicht ohne weiteres auf alle anderen Farbgeräusche übertragen.
Für den TikTok-Trend heißt das: Wer sich mit rotem Rauschen in den idealen Entspannungszustand bringen kann, effizienter lernen, Gedankenspiralen stoppen oder sich ganz einfach ans Meer fantasieren möchte, für den ist der Trend bestimmt einen Versuch wert. Und wer mit alldem nichts anzufangen weiß, kann sich zurücklehnen und die Stille genießen.
Titelbild: John O'Nolan via unsplashIch liebe blumige Formulierungen und sinnbildliche Sprache. Kluge Metaphern sind mein Kryptonit, auch wenn es manchmal besser ist, einfach auf den Punkt zu kommen. Alle meine Texte werden von meinen Katzen redigiert: Das ist keine Metapher, sondern ich glaube «Vermenschlichung des Haustiers». Abseits des Schreibtisches gehe ich gerne wandern, musiziere am Lagerfeuer oder schleppe meinen müden Körper zum Sport oder manchmal auch auf eine Party.