Meinung

Buchtipp: Eine grausam feministische Neuinterpretation von «Die kleine Meerjungfrau»

Gaia ist eine Meerjungfrau, die in einem gnadenlosen Patriarchat lebt. Da gibt es keinen Platz für Gefühle. Als sie sich ausgerechnet in einen Menschen verliebt, gerät sie in einen düsteren Strudel aus Verzweiflung, aus dem sie sich heraus zu kämpfen versucht. Eine Buchempfehlung.

Heute läuft der Live-Action-Film meines liebsten Disney-Klassikers «Arielle» in den Kinos an. Im Zuge meiner emotionalen Vorbereitung auf diesen grossen Tag versuche ich mich bereits seit Wochen mit thematisch passender Literatur in Stimmung zu lesen – und bin dabei auf eine Perle gestossen: «The Surface Breaks» der irischen Autorin Louise O’Neill. Ihr Meisterwerk ist eine deprimierende, teilweise auch grausame Neuinterpretation von Hans Christian Andersens weltberühmtem Märchen von der kleinen Meerjungfrau.

Disneys Trickfilm-Version der Erzählung ist sicher kein Werk, das Feministinnen jauchzen lässt. Aber mit einem gesunden, erwachsenen Menschenverstand und der Fähigkeit, fragwürdige Elemente (zum Beispiel, die eigene Stimme für einen Mann aufzugeben) distanziert zu betrachten, geniesse ich die über-optimistische Storyline noch heute. Umso unerwarteter traf mich O’Neills Ansatz, der die Geschichte von allen Seiten schonungslos in ein feministisches Licht rückt.

«The Surface Breaks» wurde erstmals 2018 veröffentlicht. Das wunderschöne Cover stammt von Illustratorin Paola Escobar.
«The Surface Breaks» wurde erstmals 2018 veröffentlicht. Das wunderschöne Cover stammt von Illustratorin Paola Escobar.
Quelle: Natalie Hemengül

Die Geschichte

Die Autorin erzählt aus dem Leben der 15-jährigen Meerjungfrau Gaia, die nahe der irischen Küste mit ihren Schwestern im Unterwasser-Königreich ihres Vaters lebt. Doch im offenen Meer ist von Freiheit keine Spur. Ebenso gut könnte sie ein enges Aquarium ihr Zuhause nennen. Denn Frauen haben nichts zu melden. Ihre Aufgabe ist es zu gefallen, zu unterhalten und zu gehorchen. Allen voran dem König, ihrem Vater. Gaia und ihre Schwestern werden bei jeder Gelegenheit wie Frischfleisch frischer Fisch zur Schau gestellt und den Meermännern zum Frass vorgeworfen. Zumindest im übertragenen Sinne.

Eines Tages verliebt sich Gaia in einen jungen Mann, den sie vor dem Ertrinken gerettet hat: Oliver. Für die Liebe eines Wildfremden lässt sie sich auf einen blutigen Deal mit einer mächtigen, verstossenen Meeresbewohnerin (ich vermeide an der Stelle bewusst das Wort Hexe, um dem Buch und seiner Message gerecht zu werden) ein. An Land bemüht sie sich nicht nur um die Gunst ihres Liebsten, sondern macht sich auch auf die Suche nach der Wahrheit darüber, was mit ihrer totgesagten Mutter geschehen ist.

Eine Empfehlung für alle erwachsenen Arielle-Fans

O’Neill erweitert die Welt der kleinen Meerjungfrau nicht nur um neue, kritische Perspektiven, sondern auch um eine komplexe Dynamik und ein angespanntes Verhältnis zwischen zwei Meeresvölkern, die die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischen. Das patriarchalische Setting als Nährboden für die Konkurrenzkämpfe unter den Schwestern spitzt die Geschichte ungewöhnlich scharf zu. Bereits nach wenigen Seiten fegte mir der düstere Spin die rosa Brille von der Nase. Die schier endlose Aneinanderreihung von Enttäuschungen, die Gaia in dem Buch gehorsam erduldet, sind so treffend beschrieben, dass man die Worte förmlich spüren kann.

Triggerwarnungen: Dieses Buch enthält Themen wie sexuelle Gewalt, Vergewaltigung, Suizid und Homophobie und ist für junge Leser und Leserinnen nicht geeignet.

The Surface Breaks: a Reimagining of the Little Mermaid (Englisch, Louise O'Neill)
Belletristik

The Surface Breaks: a Reimagining of the Little Mermaid

Englisch, Louise O'Neill

Das Buch ist auf Englisch, eine deutsche Version gibt es zurzeit noch nicht.

Titelfoto: Natalie Hemengül

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Als Disney-Fan trage ich nonstop die rosarote Brille, verehre Serien aus den 90ern und zähle Meerjungfrauen zu meiner Religion. Wenn ich mal nicht gerade im Glitzerregen tanze, findet man mich auf Pyjama-Partys oder an meinem Schminktisch. PS: Mit Speck fängt man nicht nur Mäuse, sondern auch mich. 


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