Hintergrund

Ein Körper, zwölf Persönlichkeiten: Avis lebt mit einer dissoziativen Identitätsstörung (Teil 2)

Avis ist nicht allein in ihrem Körper. Warum und mit welchen Personen sie sich diesen teilt, hast du bereits im ersten Teil erfahren. Hier erzählt sie, wie die Mitbewohner ihrer Kopf-WG zusammen funktionieren, was die innere Welt ist und warum sie über ihre Erkrankung aufklären will.

Wir sind viele: Das könnte das Fazit aus dem ersten Gespräch mit Avis sein. Dort hat die Wienerin über die einzelnen Charaktere ihres DIS-Systems berichtet und wie ihre Persönlichkeitsstörung und das psychiatrische Krankheitsbild entstanden sind.

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    Ein Körper, zwölf Persönlichkeiten: Avis lebt mit einer dissoziativen Identitätsstörung (Teil 1)

    von Maike Schuldt-Jensen

Ich möchte aber noch mehr darüber erfahren. Beispielsweise, wie sich entscheidet, welcher der insgesamt zwölf Anteile gerade die Kontrolle übernimmt. Avis erklärt mir, dass sie nicht nach einer bestimmten Person verlangen und diese bewusst fronten lassen kann. Aber: Durch diverse Trigger können bestimmte Anteile hervorgelockt werden. Etwa durch deren Lieblingsmusik. Oder generell Dinge, die die jeweiligen Personen mögen. Bei Farosh sind es beispielsweise Kuscheltiere. Negative Trigger gibt es aber auch. So kommt der selbstbewusste Corrin zum Vorschein, wenn das DIS-System in einer unangenehmen oder gefährlichen Situation ist und beispielsweise in der Öffentlichkeit belästigt wird. Dann beschützt Corrin sich und die anderen, indem er frontet und wehrt. Etwas, was schüchterne Persönlichkeiten wie Bella oder Avis überfordern und sie in Schockstarre versetzen würde. «Also können sich die verschiedenen Persönlichkeiten quasi je nach Bedarf für das DIS-System einsetzen?», hake ich nach. «Genau», lautet Avis’ Antwort:

«Wir funktionieren gemeinsam. Jeder Anteil hat so seine Stärken und das Gehirn setzt automatisch den ein, der eben für den gewissen Grund geschaffen wurde.»

Also kommen Anteile, die mit Trauma zu tun haben, in traumatischen Situationen hervor und Anteile, die da sind, um den Körper zu schützen, fronten in Situationen, in denen der Körper bedroht wird. «Andere Anteile, die vielleicht empathisch oder gesellig veranlagt sind, treten in sozialen Situationen in den Vordergrund.» Dafür sorgt das Gehirn meist automatisch.

Spontane Wechsel können aber manchmal auch unpraktisch sein. Avis erzählt mir ein paar Anekdoten aus ihrer Schulzeit. Etwa habe sie selbst leider keine Erinnerung an ihre Abschlussfeier, da ein anderer Anteil diese erlebt hat. Corrin beispielsweise habe sich einmal einen Besuch im Disneyland gewünscht. Bei dem Ausflug selbst war er jedoch nicht anwesend – und hat so nichts davon mitbekommen. Dafür habe er einmal plötzlich in einer Lateinklausur in der Schule das Ruder übernommen. Sehr ungünstig, wo doch hauptsächlich Ryuu in den vorherigen Lateinstunden anwesend war. Aber nun saß eben Corrin über den Aufgaben, die er nicht lösen konnte, da er nichts vom Schulstoff wusste. Damals war Avis dissoziative Identitätsstörung noch nicht diagnostiziert worden. Aber die Auswirkungen verursachten bereits Schwierigkeiten. Nicht nur, wenn sie ihr Wissen nicht mehr abrufen konnte: «Zum Beispiel hat sich unser Schriftbild immer wieder verändert. Dann haben uns manche Lehrkräfte vorgeworfen, wir hätten geschummelt, oder jemand anderes hätte für uns die Hausaufgaben gemacht.»

Die verschiedenen Schriftbilder der Anteile im Vergleich.
Die verschiedenen Schriftbilder der Anteile im Vergleich.
Quelle: Avis

Solche Probleme waren mir bisher nicht bewusst, gebe ich zu. Es ist, als hätte Avis mehrere Schülerinnen und Schüler in ihrem Kopf, mit denen sie den Unterrichtsstoff einzeln pauken muss, wenn sie eine Prüfung überhaupt nur ansatzweise bestehen will. «Genau das ist ein sehr großes Problem bei uns», bestätigt sie. «Weil es wirklich immer wieder passiert, dass ein Anteil, der eben nicht Bescheid weiß, bei einer Prüfung hervorkommt – einfach weil es eine Stresssituation für uns ist. Das heißt, wir brauchen eigentlich doppelt, dreifach, vierfach so viel Vorbereitungszeit.»

Avis hat also nicht nur eine WG im Kopf, sondern auch eine Schulklasse. Und, wie du längst erfahren hast, eine sehr gemischte. Ein weiblicher Körper kann nämlich auch männliche Persönlichkeiten abspalten. «Wie geht das?», frage ich Avis. Das liegt daran, dass das Geschlecht dem Gehirn vollkommen egal ist, erklärt die 20-Jährige. Es geht nur darum, dem Kind zu geben, was es braucht – im Regelfall Sicherheit. Das kann beispielsweise durch einen starken Beschützer oder auch eine mütterliche Figur erfolgen. Und sogar Personen aus Filmen und Büchern, die einen in der traumatischen Zeit begleiten, sind laut Avis möglich. Beispielsweise ist der Anteil Holly ein fiktiver, der auf dem gleichnamigen Charakter der «Woodwalkers»-Buchreihe beruht. Solche Vorbilder müssen übrigens nicht einmal menschlich sein:

«Das Gehirn hat keine Grenzen, nur die kindliche Phantasie ist eigentlich die Grenze von dem, was Anteile sein können. Auch Feen oder andere Fantasiewesen können sich somit abspalten.»

Als ich Avis nach nicht-menschlichen Anteilen frage, erzählt sie, dass einige ihrer Persönlichkeiten sich manchmal als Drachen präsentieren. «Wahrscheinlich weil Drachen Stärke, Mut und Kraft verkörpern, und weil sie wegfliegen und frei sein können. Und das ist natürlich, was wir als Kind nicht hatten.» So zeigt sich beispielsweise Corrin in der inneren Welt als eines dieser kraftvollen Fantasiewesen.

Ein permanentes Stimmenwirrwarr von zwölf Personen hört Avis übrigens nicht. Die Personen, die in der inneren Welt sind, sind abgeschirmt. Aber Anteile, die close to front oder im Hintergrund anwesend sind, können einzelne Kommentare einwerfen. Oder – etwas seltener und nur wenn die Verbindung zwischen den beiden Anteilen gut ist – in den Dialog mit dem Charakter treten, der gerade frontet. «Das ist dann ein bisschen so, als würde dieser innere Erzähler auf einmal von jemand anderem übernommen werden und du quasi mit deinem inneren Erzähler sprichst. Deine Gedanken reden mit dir, aber du redest auch mit deinen Gedanken.» Alles wieder sehr komplex.

Um damit zurechtzukommen, ist Avis in Gesprächs- und Traumatherapie. Die Behandlung setzt beim Kindesmissbrauch an, was nicht ungewöhnlich ist. Die Ärztin Dr. Christine Amrhein schreibt auf der Seite Verband Pro Psychotherapie e.V. zu dem Thema: «Behandelt werden dissoziative Störungen in der Regel mit einer Psychotherapie, die sich an der Therapie der Posttraumatischen Belastungsstörung (Traumatherapie) orientiert. Ergänzend können Psychopharmaka und weitere Verfahren wie Bewegungstherapie oder Paar- und Familientherapie eingesetzt werden.»

Es ist Avis Wunsch, ihre Erkrankung für Außenstehende ein bisschen greifbarer zu machen. Dafür leistet Avis vor allem auf TikTok sowie auf ihrem Instagram-Account Aufklärungsarbeit. Über das soziale Medium bin auch ich auf sie gestoßen. Dennoch ist das nicht immer ein leichter Job für Avis, denn manchen Menschen mangelt es weiterhin an Verständnis und Toleranz. So erhält sie Nachrichten, in denen ihr vorgeworfen wird, sie würde ihre Persönlichkeitsstörung faken. Sie wird übel beschimpft und erhält sogar Morddrohungen. «Wir suchen dich, wir finden deine Adresse raus und bringen dich um», ist eine von den besonders charmanten Messages, die sie als Reaktion erhalten hat. Avis gibt zu: «Es kann teilweise schon wirklich schwer und auch belastend sein, mit sowas umzugehen.» Woher nimmt sie ihren Mut, dennoch über das Thema zu reden, frage ich sie. «Der Antrieb ist einfach, dass wir extrem privilegiert sind. Nicht jedes System hat überhaupt die Diagnose, nicht jedes weiß darüber Bescheid. Und nicht jedes System ist auch stabil genug, um darüber reden zu können.» Etwa kämpfen manche Betroffene noch sehr mit ihren traumatischen Erinnerungen oder können noch nicht damit umgehen, dass sie viele sind.

«Wir wollen für andere Systeme die Stimme sein, weil es noch nicht genug Aufklärung über die Störung gibt. Und weil Hass meistens durch Unwissenheit kommt.»

Neben all den negativen Kommentaren sind da aber auch Leute, die die Thematik wirklich interessiert, die Rückfragen stellen und positives Feedback geben. Sowie die Hoffnung, dass Aufklärung über die Störung, die Situation für DIS-Systme verbessert. Denn: «Je mehr Menschen wissen, was eine DIS ist, desto mehr Verständnis bekommen Betroffene hoffentlich.»

Titelbild: Avis

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Katzenlady und Kaffeeliebhaberin aus Kiel, die das Hamburger Redaktionsteam unterstützt. Immer auf der Suche nach «News und Trends» in den Bereichen Sport und Health Care, DIY & Basteln, Interior, Deko, Geschirr, Sex & Erotik.


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