Hintergrund

Eine Nacht im Zelt, zwei Zähne weniger

Berlin ist ein raues Pflaster. Dass eine Nacht im Zelt mit dem Verlust zweier Schneidezähne endet, hätte ich trotzdem nicht gedacht. Die Geschichte eines kleinen Indoor-Abenteuers in der grossen Stadt.

Berlin gilt als arm, aber sexy. Inzwischen ist die Stadt so sexy, dass vor allem Wohnungssuchende arm dran sind. Nicht unbedingt die mit dem dicken Portemonnaie, aber die Jungen und Kreativen. Also die Armen. Inzwischen gibt es so viele Junge und Kreative in der Stadt, dass einige davon sogar am Sozialgericht zu arbeiten scheinen. Das empfahl einem Antragsteller kurzerhand und durchaus kreativ, ein Zelt auf dem Balkon unterzuvermieten. Das sei nicht unüblich. Andere Länder, andere Sitten.

Es durfte mich also nicht wundern, dass mein Besucher aus Berlin sich nachts klaglos auf dem Balkon zusammenrollte und selbst im stärksten Zürcher Sommergewitter dort ausharrte. Ohne Zelt. Als wir ein paar Wochen später drei Stunden vor Ankunft unseren sehr spontanen Gegenbesuch in der deutschen Hauptstadt ankündigen, habe ich zum Glück eines im Gepäck.

Der Trend geht zum Tent

Wenn wir schon in voller Familienstärke in einem Singlehaushalt einfallen, kann so eine landestypische Unterkunft nicht schaden, denke ich mir. Vielleicht habe ich die Lage aber auch falsch eingeschätzt. Wir befinden uns nicht in einem Grossstadtslum, sondern im zentral gelegenen Schöneberg, wo sich Altbauten aneinanderreihen, deren Decken noch höher als die Mieten sind. Zu meiner Enttäuschung gibt es sogar ein Gästezimmer. Und jetzt? Ich hatte mir doch die Zeltidee in den Kopf gesetzt!

So ein Microadventure, ein kleines Alltagsabenteuer vor der eigenen (oder fremden) Haustür, ist immer eine gute Sache. Und ich tu' das nicht für mich. Ich tue es für die Kinder. Okay, das ist gelogen. Aber meine Tochter hat auch Lust auf Grossstadt-Camping. Und zum Glück ist mein Kollege der Letzte, der kein Verständnis für die Lage aufbringen würde. Sein Balkon ist mein Balkon. Aber sein Balkon ist auch ein schmaler Balkon.

Statt zu meckern, weil ich zu nachtschlafender Zeit mit viel zu langen Zeltstangen auf dem Balkon randaliere, packt er mit an und bringt mir schonend bei, dass ich wohl drinnen zelten muss. Oder, wie der Berliner sagt: «Komm‘ se rin, könn‘ se rauskieken!» Auch gut. Aus einem Zelt in der Wohnung gentrifiziert uns so schnell niemand weg.

Richtfest im Wohnzimmer.
Richtfest im Wohnzimmer.

Urlaub in den Apsiden

In der Beschreibung des giftgrünen Kuppelzelts Salewa Denali stehen einige Dinge, die zu erwarten waren («kommt mit viel Innenraum») und nichts, was gegen die Nutzung in Altbauwohnungen spricht. Es eignet sich zum Trekking und Hiking in den Bergen. Wir sind in Schöneberg und hiken mit dem halb aufgebauten Zelt vom Balkon in die Küche.

Neben dem Herd macht es sich prächtig, auf Heringe verzichten wir. Mir kommt die Speisekarte eines thailändischen Restaurants in den Sinn, in dem ich mal sass und, sofern die Übersetzung richtig war, «ein Thai-Gericht aus alten Zelten» ass. Die Dinge fügen sich auf wundersame Weise. Es wird ein Microadventure im Reich der Mikrowelle.

Gegen 23 Uhr wimmle ich meinen Sohn ab, der mir das Blackroll-Kissen entwenden will. Dann kriechen meine Tochter und ich in unsere Kuppel und schliessen die Apsiden. Wikipedia weiss: «Die Apsis, auch Apside, ist ein im Grundriss halbkreisförmiger oder polygonaler, selten rechteckiger oder quadratischer Raumteil, der an einen Hauptraum anschliesst und meist von einer Halbkuppel überwölbt wird.»

Ich würde sagen, in unserem Fall handelt sich um eine Art Vorzelt. Und falls mich jemand fragen sollte, wo ich in den Ferien war, sage ich: «In den Apsiden.» Wenn das nicht exotisch ist. Aber zunächst sage ich gute Nacht. Und dann: «Hörst du das?»

«Explore the outdoors», fordert mein Schlafsack. «Do more of what makes you happy» mein Necessaire. Ich kann es nicht beiden recht machen, aber das Necessaire dürfte zufrieden sein.
«Explore the outdoors», fordert mein Schlafsack. «Do more of what makes you happy» mein Necessaire. Ich kann es nicht beiden recht machen, aber das Necessaire dürfte zufrieden sein.

Es fliesst Blut

Die Küchenuhr tickt, irgendwo knarzen Dielen. Und eine Sechsjährige hat auch beim Indoor-Camping Anspruch auf ein paar Schauergeschichten. Es sind ja Ferien. «Der Ritter ohne Kopf kam alle 100 Jahre an Halloween», kontert sie, noch bevor ich richtig loslegen kann. «Er heulte so fürchterlich, dass einem das Blut in den Adern zu Eis erstarrte!» Ich heule laut auf. Sie sagt: «Lass das! Ich weiss, dass du es bist!» Dann fliesst tatsächlich Blut. Auch wenn ich zunächst nicht verstehe, warum.

«Es muss ein verbluteter Zahn sein!», ruft meine Tochter. Apside auf, sie flitzt ins Bad und kommt mit einem Milchzahn in der Hand und blutverschmiertem Mund als stolze Lückenbesitzerin zurück. Genug Aufregung für heute. Die Mission Microadventure ist mehr als erfüllt. Wir starren an den Zelthimmel und werden ruhig. «Siehst du den Wal?», frage ich. Er schwimmt direkt über uns. Es wird doch kein Immobilienhai sein, denke ich noch. Dann schlafen wir ein.

Na? Siehst du den Wal?
Na? Siehst du den Wal?

Kommt jetzt die Zahnfee?

Als wir gegen acht Uhr erwachen, bin ich schwer von Begriff. Welcher Wal? Und was für ein Zahn? Wovon redet meine Tochter? «Der andere Wackelzahn ist auch draussen», höre ich. Tatsächlich. Dass eine Nacht im Indoor-Zelt zwei Schneidezähne kostet und so viel Aufregung bietet, hätte ich nicht gedacht.

Es trappelt in der Küche, eine Apside öffnet sich. Was jetzt? Kommt die Zahnfee? Oder hat uns das Sozialgericht über Nacht noch einen Mitbewohner vermittelt? Nein, zum Glück ist es nur ein schlecht gelauntes Monster mit zwei furchteinflössenden Eckzähnen.

Noch mehr Geschichten, die das Leben schreibt und die ich dann aufschreibe, findest du in meinem Autorenprofil.

14 Personen gefällt dieser Artikel


User Avatar
User Avatar

Einfacher Schreiber, zweifacher Papi. Ist gerne in Bewegung, hangelt sich durch den Familienalltag, jongliert mit mehreren Bällen und lässt ab und zu etwas fallen. Einen Ball. Oder eine Bemerkung. Oder beides.


Familie
Folge Themen und erhalte Updates zu deinen Interessen

Diese Beiträge könnten dich auch interessieren

  • Hintergrund

    Ein Teleskop bringt mir die Sterne und meine Tochter näher

    von Philipp Rüegg

  • Hintergrund

    Piste gut. Hand kaputt.

    von Patrick Bardelli

  • Hintergrund

    Eine Frage von Leben und Tod

    von Patrick Bardelli

1 Kommentar

Avatar
later