Hintergrund

Ich habe nutzlose Wärmebilder gemacht und nenne das Kunst

David Lee
29.6.2020

Wer eine Wärmebildkamera nutzt, will Temperaturen messen. Das Aussehen der Bilder ist wurscht. Doch mich interessiert die Ästhetik. Gelingt es mir, mit dem Messgerät interessante Bilder zu machen?

Eine Wärmebildkamera ist ein Messgerät, um die Temperatur von Oberflächen zu bestimmen. Sie ist nicht dazu gedacht, schöne Bilder zu machen. Doch genau das versuche ich. Realistische Bilder wird es nicht geben, aber hoffentlich so etwas wie Kunst. Denn Kunst entsteht oft durch Zweckentfremdung. Oder Zweckbefreiung. Wenn sich alles einem praktischen Nutzen unterordnen müsste, könnte keine Kunst entstehen.

Diese Kamera kann nichts

Ich benutze die Seek Reveal Pro, die Redaktionskollege Kevin beispielsweise zur Messung der Wärmeentwicklung bei Notebooks nutzt. Das etwa 1000 Franken oder 800 Euro teure Gerät hat eine Auflösung von 320×240 Pixeln. Das sind 0.07 Megapixel. Für eine Wärmebildkamera ist das viel. Die aus der Fotografie bekannten Faktoren wie Blende, Verschlusszeit und ISO gibt es nicht. Einen Zoom hat die Kamera zwar, aber der ist nur digital und extrem umständlich zu bedienen: Ich muss ein Untermenü öffnen und den Zoomfaktor in Zehntelschritten einzeln erhöhen. Video kann sie auch nicht. Seltsamerweise hat sie eine Lampe zur Beleuchtung, obwohl das Licht keinen Einfluss auf das Bild hat.

Aus der Sicht eines Fotografen kann diese Kamera nahezu nichts. Genau das könnte für mein Experiment ein Vorteil sein. Einschränkungen fördern die Kreativität. Oder wie das alte Sprichwort sagt: Not macht erfinderisch.

Wärmebild-Selfies

Das erstbeste Motiv bin ich selbst. Ein Selfie zu machen, ist mit diesem Gerät gar nicht so einfach. Die Kamera hat einen relativ kleinen Bildausschnitt. Deshalb muss ich sie weit weg halten, um wenigstens meinen Kopf ganz aufs Bild zu kriegen. Selbstauslöser gibt es natürlich nicht. Da das Gerät wie eine TV-Fernbedienung gehalten werden muss, sehe ich bei der Selbstaufnahme nicht auf den Bildschirm. Mit Hilfe eines Spiegels klappt es schliesslich.

Die Farben stehen für verschiedene Temperaturen und sind willkürlich gewählt. Es lassen sich auch andere Farbpaletten verwenden. Bei Seek heissen diese «Filter». Die Palette muss allerdings schon vor der Aufnahme festgelegt werden.

Dieses Bild hat den Filter «Black». Je dunkler, desto wärmer. Es gibt auch das Umgekehrte, aber Black gefällt mir besser.

Eine nachträgliche Änderung der Farbpalette ist nicht möglich, aber ich kann die Farben per Bildbearbeitung ändern. Hier habe ich versucht, die Ähnlichkeit mit einem Totenschädel farblich herauszuarbeiten.

Hand und Fuss

Meine Hand oder die Füsse kann ich einfacher aufnehmen. Im Wärmebild sind Körperteile generell interessant, weil sie wärmer sind als die Umgebung. Zumindest in halbwegs kühlen Innenräumen.

Deutliche Temperaturverteilung erwünscht

Das Licht ist weitgehend egal, ich kann im Dunkeln ähnliche Bilder machen wie bei Tageslicht. Wichtig ist die Temperaturverteilung. Ist der Temperaturunterschied zu klein, hebt sich das Motiv nicht gut ab und das Bild rauscht. Hier habe ich nicht mich selbst thermografiert, sondern eine Fensterscheibe. Die Scheibe reflektiert meine Körperwärme ein bisschen, aber nur schwach. Daher sind die Bilder völlig verrauscht.

Hier berühre ich eine Fensterscheibe. Du siehst die Hand selbst und zum Vergleich ganz schwach die Wärmereflexion der Scheibe.

Die Espressokanne liefert interessante Farbabstufungen, aber erst nachdem sie etwas abgekühlt ist. Bei voller Hitze ist der Temperaturunterschied zu gross, sodass sich keine interessante Farbverteilung ergibt.

Simple Motive

Die Espressokanne ist ein eher einfaches Motiv. Simple Gegenstände funktionieren bei der niedrigen Auflösung besser. Daher nehme ich auch die Kaffeetasse auf. Und am Abend zeichnet sich ein kühles Bier vor dem deutlich wärmeren Körper schön ab.

LED-Lampen erwärmen sich nur schwach. Das Licht in meiner Vorratskammer ist zum Glück immer noch eine Glühbirne.

Mein Lieblings-Wärmebild zeigt meine Duschbrause, aus der warmes Wasser kommt. Genauer gesagt: 71 Grad warmes Wasser.

Landschaftsaufnahmen

Landschaftsaufnahmen mit einer Wärmebildkamera? Von den vielen dummen Ideen, die ich in diesem Job bisher hatte, ist das sicherlich eine der dümmsten. Also los.

Beim Himmel zeigt die Wärmekamera Negativtemperaturen an. Unter Umständen richtig tiefe Werte: Minus 70 Grad mitten im Sommer. Die Kamera misst langwelliges Infrarot, das von einer Oberfläche reflektiert wird. Der Himmel ist keine Oberfläche und reflektiert dementsprechend fast nichts.

Diese Minustemperaturen wirken sich nicht so negativ aus wie extreme Hitzewerte. Im Rest des Bildes sind immer noch Details zu erkennen. Wolken sind gut sichtbar und die Farbe ist passenderweise oft blau.

Schwarzweiss kommt bei Landschaftsaufnahmen gut. Wobei gewisse Bilder so ähnlich zu einem normalen Foto sind, dass man wohl besser eine gewöhnliche Kamera nimmt.

Das Hochformat ist meist nicht ideal für Landschaftsbilder. Ich bin sehr lange nicht drauf gekommen, dass es ja auch im Querformat geht. Es ist allerdings nicht so einfach, weil ich dann um die Ecke aufnehme, also um 90 Grad in eine andere Richtung schaue als die Kamera. Zudem muss ich die Kamera auch schräg nach unten halten.

Fazit: ausprobieren ja, extra kaufen nein

Das Zweckentfremden der Wärmebildkamera hat mir Spass gemacht, weil ganz andere Bilder entstehen als mit einer normalen Kamera. Und oft auch anders, als ich es erwartet hätte. Es ist spannend, alles auszuprobieren und zu lernen, was sich wie auswirkt. Falls du jemanden kennst mit einer solchen Kamera, probier es unbedingt mal aus!

Hingegen wäre es ziemlich verrückt, eine Wärmebildkamera zu kaufen, nur um damit so etwas wie Kunst zu machen. Ich habe das Gerät nur einige Tage ausprobiert, aber bereits jetzt merke ich, dass die Sache irgendwann langweilig wird. Ist der Wow-Effekt des Neuartigen einmal verpufft, fängst du dich an zu nerven über die miese Bildqualität und die umständliche Bedienung der Kamera. Dann taugt sie nur noch als das, wofür sie eigentlich erschaffen wurde: Als Messgerät.

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Durch Interesse an IT und Schreiben bin ich schon früh (2000) im Tech-Journalismus gelandet. Mich interessiert, wie man Technik benutzen kann, ohne selbst benutzt zu werden. Meine Freizeit ver(sch)wende ich am liebsten fürs Musikmachen, wo ich mässiges Talent mit übermässiger Begeisterung kompensiere. 


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