
Hintergrund
Gärtnern mit Kindern: Das Einmaleins des Samensäens
von Ann-Kathrin Schäfer
Solltest du dir Sorgen machen, wenn die Tochter eine Handvoll Sand isst? Müssen Schoppen vor jedem Gebrauch ausgekocht werden? Darfst du einem Baby den Nuggi zurückgeben, wenn er gerade auf den Boden gefallen ist? Das Leben von Kindern steril zu halten, ist nicht nur unnötig – es schadet unter Umständen sogar.
Es gibt mehr Mikroben auf der Welt als Sterne am Himmel. Ein paar davon sind richtig böse: Sie machen uns krank und haben schon unzählige Menschen das Leben gekostet. Doch auch wenn hierzulande heute glücklicherweise kaum mehr jemand an einer Infektionskrankheit stirbt: Eltern schauen meist mit gemischten Gefühlen zu, wenn ihr Kind sich die Plastikschaufel des Gspänlis in den Mund steckt. Oder sich im Wald von oben bis unten mit Matsch bespritzt. Oder dem Nachbarshund einen Kuss ins Fell drückt.
Die Kindheit möglichst steril zu gestalten, sei nicht nur unnötig, sagt Brett Finlay, Professor für Mikrobiologie an der kanadischen Universität British Columbia. Es schade den Kleinen unter Umständen sogar. Die grosse Mehrheit der Mikroben sei nämlich dazu da, uns gesund zu halten, schreibt er im Buch «Dreck ist gesund!». Er hat es gemeinsam mit der Mikrobiologin Marie-Claire Arrieta verfasst.
Doch was sind Mikroben eigentlich? Sie sind Lebewesen wie Bakterien, Viren oder Pilze, die man nur unter dem Mikroskop sehen kann. Sie können fast überall überleben, aber besonders wohl fühlen sie sich im menschlichen Darm. Jeder Mensch hat seine ganz eigene Zusammensetzung von Mikroben, die auf und in ihm leben, das sogenannte Mikrobiom. Wie dieses aussieht, hängt vor allem davon ab, wie man lebt und wie man sich ernährt.
Dass es nicht nur schlechte, sondern auch gute Mikroben gibt, wussten Experten früher schon. Aber sie waren sich in erster Linie bewusst, dass diese bei der Verdauung helfen – man denke an das Bifidus-Joghurt – und dass sie bestimmte Vitamine für uns bilden. Dabei können Mikroben viel mehr: Sie bekämpfen schädliche Bakterien und tragen zur Entwicklung des Immunsystems bei, indem sie ihm sozusagen dabei helfen, für den Ernstfall zu üben. Ist dieses frühe Training nicht möglich, kann es später zu Überreaktionen des Immunsystems kommen. Mögliche Folgen sind Asthma, Allergien oder auch Reizdarmsyndrom.
Gerade Babys und Kleinkinder sind heute eher zu wenigen Mikroben ausgesetzt als zu vielen. Die Hauptgründe: Es werden heute viel mehr Antibiotika verwendet und viel häufiger Kaiserschnitte durchgeführt. Ausserdem fällt die Ernährung einseitiger und ballaststoffarmer aus als früher. Nicht zuletzt verbringen Kinder heutzutage viel weniger Zeit in der Natur, wo sie mit allen möglichen Pflanzen, Tierchen und Dreck in Berührung kommen würden.
Dabei ist es besonders in den ersten Lebensmonaten ganz wichtig, dass Kinder genügend Mikroben ausgesetzt sind. Das beginnt schon mit der Geburt, wie Finlay und Arrieta schreiben. Ist das Baby im Bauch der Mutter noch weitgehend steril, empfängt es bei einer natürlichen Geburt nämlich eine ziemliche Ladung nützlicher Mikroorganismen. Sie stammen aus dem Vaginalsekret der Mutter und sogar aus ihrem Stuhl. Sie helfen dem Baby dabei, Muttermilch zu verdauen, sie schützen es vor Infektionen und fördern die Entwicklung des Immunsystems. Erhält es diese «Impfung» nicht, steigt das Risiko deutlich, dass das Kind später übergewichtig wird oder an Asthma, Allergien, Zöliakie oder sogar Autismus leidet.
Es ist der Erfindung von Antibiotika zu verdanken, dass Kinder in der Schweiz heute nicht mehr an Lungenentzündungen oder anderen Infektionskrankheiten sterben. Doch während solche Erkrankungen stark zurückgegangen sind, treten andere Krankheiten wie Diabetes oder Krebs heute nicht nur häufiger, sondern auch früher auf. Auch hier spielen Mikroben eine bedeutende Rolle.
Antibiotika sind dazu gemacht, möglichst viele Mikroben zu töten, auch solche, die eigentlich nichts mit der Krankheit zu tun haben. Während sich das Mikrobiom eines Erwachsenen nur kurzfristig verändert, wenn er Antibiotika nimmt, hat dies auf schwangere Frauen und Babys unter Umständen weitreichende Folgen. Es sei, schreibt Finlay, als ob «ein üppiger Regenwald abgeholzt wird und nur einige wenige vorherrschende Arten ein Comeback schaffen». Das bedeutet nicht, dass Antibiotika nicht eingesetzt werden sollen. Doch sie sollten wirklich die letzte Wahl sein und beispielsweise nicht bei viralen Erkrankungen wie Halsschmerzen, Husten oder Grippe verwendet werden. «Es gibt nur wenig, das stärker in das sich entwickelnde Mikrobiom eines Kindes eingreift», betont Finlay. «Antibiotika können das Immunsystem dauerhaft schädigen.»
Sind die Kinder schon etwas grösser, gelten für einen guten Mikrobenhaushalt vor allem zwei Grundsätze: Gesunde Ernährung (viel Gemüse und Ballaststoffe, wenig Weissmehl, Zucker und Fett) – und keine übertriebene Reinlichkeit. Doch was bedeutet das, und wo muss eben doch genau auf Sauberkeit geachtet werden?
Hände waschen
Händewaschen sei ohne Zweifel die beste Hygienemassnahme, um sich vor Infektionskrankheiten zu schützen, sagen Finlay und Arrieta. Trotzdem reicht es in der Regel, wenn Kinder vor dem Essen, nach dem Gang aufs WC und nach dem Kontakt mit einer kranken Person die Hände waschen. Wasser und Seife sind genug – auf antibakterielle Seifen oder Desinfektionsmittel sollte man verzichten.
Schmutz und Schmutz
Natürlich solltest du Kindern beibringen, im Tram nicht auf dem Boden zu spielen oder die Haltestange abzulecken. Doch dass Kinder sich an etwas festhalten, dass auch viele andere anfassen, ist längst kein Grund, gleich das Desinfektionsgel zu zücken. Zu Hause vor dem Essen die Hände zu waschen, reicht in solchen Fällen vollends aus. Wenn Kinder draussen in der Natur spielen, besteht abgesehen von tierischen Exkrementen hingegen kaum das Risiko, sich mit krankmachenden Mikroben zu infizieren. Ebenso sollten Kinder im Sandkasten spielen dürfen, solange nicht sämtliche Katzen aus der Nachbarschaft diesen schon als Klo benutzt haben.
Steriler Schoppen?
Falls es sich beim Leitungswasser nicht um Trinkwasser handelt, sollten Schoppen vor dem ersten Gebrauch ausgekocht oder in einem Geschirrspüler bei hoher Temperatur gereinigt werden. Ansonsten können sie wie auch Nuggis oder Beissringe problemlos mit Wasser und Spülmittel gereinigt werden. Für Fläschchen empfiehlt sich dabei allerdings eine Flaschenbürste, denn festgesetzte Milchreste können durchaus zu Bakterienherden werden.
Putztag fürs Kinderspielzeug?
Solange Spielsachen nicht sichtbar verdreckt sind oder ein krankes Kind damit gespielt hat, muss man sie auch nicht abspülen oder sauer schrubben. Sollte es doch einmal nötig sein, dann lässt sich der Schmutz problemlos mit Wasser und Seife entfernen. Scharfe Chemikalien sollten hingegen nicht verwendet werden.
Nuggi – vom Boden zurück in den Mund?
Darf man dem Kind den Nuggi einfach zurückgeben, wenn er auf den Boden fällt? Passiert dies in einem Bus oder Einkaufszentrum, sollte der Schnuller zuerst mit Wasser und Seife abgespült werden, empfiehlt Finlay. Fällt er jedoch zu Hause oder auf einem Waldspaziergang herunter, reicht es den sichtbaren Schmutz zu entfernen. Übrigens: Ist weder Wasser noch Seife in Reichweite, dürfen Eltern den Nuggi auch selbst kurz in den Mund nehmen, um ihn zu säubern. Solange sie keine Karies haben, brauchen sie sich nicht zu sorgen, entsprechende Bakterien auf das Kind zu übertragen.
Obst unterm Wasserhahn
Obst und Gemüse sollte man immer waschen, besonders, wenn es roh gegessen wird. Das gilt auch für biologisch angebaute Lebensmittel. Zwar weisen diese meistens deutlich weniger Pestizidrückstände auf. Doch auch sie können krankmachende Keime enthalten, unter anderem etwa, weil sie häufig mit Mist gedüngt werden.
Journalistin und Mutter von zwei Söhnen, beides furchtbar gerne. Mit Mann und Kindern 2014 von Zürich nach Lissabon gezogen. Schreibt ihre Texte im Café und findet auch sonst, dass es das Leben ziemlich gut mit ihr meint.<br><a href="http://uemityoker.wordpress.com/" target="_blank">uemityoker.wordpress.com</a>