Hintergrund

«Lex Netflix» kommt: Eine Frage des Patriotismus?

Luca Fontana
16.5.2022

Das Stimmvolk hat entschieden: Künftig sollen Netflix und Co. das Schweizer Filmschaffen mit einem Obolus unterstützen. Was heisst das jetzt genau? Und warum hat das Volk überhaupt dafür gestimmt?

Als das Schweizer Filmgesetz vor über 20 Jahren geschrieben wurde, verschickte Netflix noch DVDs per Post und kämpfte ums Überleben. Heute soll der kalifornische Streaming-Dienst – stellvertretend für die ganze Streaming-Branche – der Hauptverantwortliche sein, warum die Schweizer Film- und Serienlandschaft immer weniger Publikum findet.

Jetzt will der Staat eingreifen – mit der Unterstützung von etwas mehr als 58 Prozent der Schweizer Stimmbevölkerung: Streaming-Dienste, die in der Schweiz Umsatz generieren, sollen sich neu auch an der Schweizer Filmindustrie beteiligen. Das verlangt die jüngste Änderung am Filmgesetz, besser bekannt als «Lex Netflix». Damit wird eine Gesetzeslücke geschlossen, die vor 20 Jahren kaum vorstellbar war.

Lex Netflix im Detail: Was ändert sich?

Die Änderung am Schweizer Filmgesetz besteht im Wesentlichen aus zwei Punkten:

  1. Streaming-Anbieter sollen neu vier Prozent ihres in der Schweiz generierten Umsatzes in die Filmindustrie investieren. Dasselbe soll auch für ausländische Privatsender mit Schweizer Werbefenstern gelten; inländische Privatsender werden bereits zur Kasse geben.
  1. Das Angebot der Streaming-Dienste soll neu zu mindestens 30 Prozent aus Filmen oder Serien bestehen, die in Europa produziert worden sind. Zudem müssen die entsprechenden Titel klar als europäische Produktionen gekennzeichnet werden.

Damit will sich die Schweiz im internationalen Vergleich den meisten Nachbarländern annähern, auch wenn Länder wie Österreich oder England keine Investitionspflicht kennen, wie die Handelszeitung schreibt. In Deutschland hingegen gilt eine Filmsteuer von 1,8 bis 2,5 Prozent. In Spanien sind es fünf Prozent. In Italien sind Video-on-Demand-Dienste gar verpflichtet, mindestens 20 Prozent ihres Umsatzes in europäische Produktionen zu investieren, in Frankreich sind es 26 Prozent. Anders als in den meisten Nachbarländern werden Streamingdienste hierzulande aber viel Freiheit haben, wie sie die 4-Prozent-Abgabe leisten wollen:

  • Indem sie Filme oder Serien in der Schweiz produzieren.
  • Indem sie bereits bestehende Schweizer Filme oder Serien einkaufen.
  • Indem sie eine Abgabe an die Filmförderung des Bundes leisten.

Lex Netflix hat aber nicht nur weitreichende Konsequenzen für Streaming-Dienste, sondern auch für hiesige Privatsender. Der Bund hat die Vier-Prozent-Regel nämlich nicht nur auf Streaming-Dienste und ausländische Privatsender ausgeweitet. Er hat ihn auch für inländische Privatsender verschärft: Sie dürfen ihre Abgaben nicht mehr voll, sondern nur noch begrenzt mit Werbung für den Schweizer Film abgelten. Zudem zahlen selber produzierte Unterhaltungssendungen wie etwa «Bauer, ledig, sucht …» nicht auf die besagten vier Prozent ein.

Wie viel Staat soll’s sein?

«Weshalb muss der Staat einem privaten Fernsehsender vorschreiben, dass er seine Mittel besser in einen Schweizer Film steckt als in eine publikumsstarke Unterhaltungssendung?», fragt etwa die Aargauer Zeitung, die wie der Privatsender 3+ zum Medienunternehmen CH Media gehört.

Tatsächlich versuchte eine Mischung aus bürgerlichen Jungpolitiker:innen und Vertreter:innen der Privatsender eine Grundsatzdiskussion zu führen, wie tief der Staat in die Sehgewohnheiten der Schweizer Bevölkerung eingreifen darf. In ihrem Argumentarium setzten sie auf Schlagworte wie «privilegierte Filmlobby» und «Quotenzwang» und schürten Angst vor einem Stellenabbau bei Privatsendern. Überhaupt: Streaming-Dienste würden die Filmabgaben letztendlich ja doch nur auf ihre Abonnentinnen und Abonnenten abwälzen – auf die Jungen, die sich zu allem Übel gar nicht mal fürs Schweizer Filmschaffen interessieren. Letzteres illustrierte Matthias Müller, Präsident des Referendumskomitees, in der Arena-Sendung vom 8. April. Aktuell böte Netflix rund zehn Prozent Schweizer Filme und Serien, so Müller, aber nur 0,4 Prozent davon würden tatsächlich genutzt.

Hier konterteten die Befürworter mit Argumenten wie «Mehr Auswahl» und «Stärkung Schweizer Produktionen» und unterstrichen die Förderung von Nachwuchsfilmerinnen und -filmern. Dazu versprachen sie, dass dank neuen Produktionen nicht nur mehr Arbeitsplätze in der Schweiz geschaffen würden, sondern dass auch die Qualität solcher Produktionen steigen würde. Das wiederum würde das Interesse des jüngeren Publikums wecken. Siehe «Neumatt», «Tschugger» und «Wolkenbruch». Und im Ausland, wo’s die Abgaben bereits gibt, ist es deswegen noch nirgends zu Erhöhungen von Abopreisen gekommen.

Vor allem aber würde der Staat eine längst fällige Korrektur im Schweizer Filmgesetz vornehmen, der damals den Boom von Streaming-Diensten nicht vorhersehen konnte. Damit sorge der Staat wieder für «gleich lange Spiesse» für alle.

Eine Frage des Patriotismus? Wohl kaum

Bereits heute wird die Schweizer Filmindustrie pro Jahr mit etwa 100 bis 120 Millionen Franken gefördert, wie aus dem SRF-Podcast «Rendez-Vous» am 8. April hervorgeht. Das meiste davon stamme von staatlichen Steuergeldern und Serafe-Gebühren sowie den gesetzlich vorgeschriebenen Abgaben von inländischen Privatsendern. Durch die Lex Netflix erhoffe sich der Bund weitere 18 Millionen Franken pro Jahr, um den Schweizer Filmstandort zu stärken.

Das Referendumskomitee hat sich mit aller Kraft dagegen gestemmt. «Dass wir gegen die grosse Mehrheit des Parlaments über 40 Prozent Nein-Stimmen erzielt haben, ist ein Achtungserfolg», sagt Referendumskomitee-Präsident Müller im Tagesanzeiger. Kein Wunder: Zuerst brachte das Komitee 50 000 Unterschriften für das Referendum zusammen. Dann zog es die FDP, die im Parlament ursprünglich mehrheitlich mit «Ja» gestimmt hatte, ins «Nein»-Lager. Und dann schaffte das Komitee es auch noch, eine Debatte über Konsum- und Wirtschaftsfreiheit zu führen.

Und dennoch: Das letztendlich klare «Ja» ist kein patriotisches Bekenntnis zum Schweizer Filmschaffen. Nebst der miserablen Nutzungsquote Schweizer Film- und Serienproduktionen auf Streaming-Diensten sind helvetische Produktionen auch in Kinos kaum gefragt. Vergangenes Jahr bestand gemäss Bundesamt für Statistik (BfS) gerade mal 4,3 Prozent des Angebots aus Schweizer Filmen. Tendenz: sinkend. Das, obwohl mehr Schweizer Lang- und Kurzfilme als je zuvor produziert wurden. Produktionen aus Europa hingegen machten 21,5 Prozent aus. Amerikanische Produktionen sogar 72 Prozent. Der Rest stammte aus anderen Ländern und Kontinenten; offenbar setzten Kinobetreiber:innen wenig Vertrauen in die eigene Filmindustrie.

Der Mangel an Interesse lässt sich auch in Besucherzahlen ausdrücken. 2021 verzeichnete das BfS 5,4 Millionen Eintritte in sämtlichen Schweizer Kinos. Gleichzeitig zählte Statista insgesamt 147 589 Kinoeintritte für die zehn erfolgreichsten Schweizer Filme desselben Jahres – der Rest lässt sich vernachlässigen. Das macht einen Marktanteil von nur 2,7 Prozent.

Einfach ausgedrückt: 2021 waren vier von 100 gezeigten Filmen Schweizer Filmproduktionen, aber nicht mal drei von 100 Tickets wurden für sie verkauft. Konkret: Es herrschte ein Überangebot.

Warum also das klare «Ja»?

Vielleicht steckt ja wirklich die Hoffnung auf bessere, hochwertige Schweizer Produktionen hinter dem «Ja». Und falls Netflix und Co. die Abgaben tatsächlich auf ihre Kundschaft abwälzte – noch mehr Stunk riskierend –, was sind schon vier Prozent?

Letztendlich dürfte aber der Fairness-Gedanke am ausschlaggebendsten gewesen sein. Dass internationale Streaming-Plattformen und ausländische Fernsehsender viel Geld in der Schweiz verdienen, ohne Einkommenssteuern zu entrichten oder wenigstens einen Mehrwert in Form von Arbeitsplätzen zu schaffen, konnten auch die Gegnerinnen und Gegner der Lex Netflix nie von der Hand weisen. Dass darum zumindest ein kleiner Anteil des Umsatzes in der Schweiz bleiben und reinvestiert werden soll, das erschien den meisten Wählerinnen und Wählern nur fair – unabhängig davon, ob sie das Angebot nutzen oder nicht.

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Abenteuer in der Natur zu erleben und mit Sport an meine Grenzen zu gehen, bis der eigene Puls zum Beat wird — das ist meine Komfortzone. Zum Ausgleich geniesse ich auch die ruhigen Momente mit einem guten Buch über gefährliche Intrigen und finstere Königsmörder. Manchmal schwärme ich für Filmmusik, minutenlang. Hängt wohl mit meiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Kino zusammen. Was ich immer schon sagen wollte: «Ich bin Groot.» 


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