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Hintergrund

Sind Kreidezähne die neue Volkskrankheit? Eine Expertin klärt auf

Patrick Vogt
7.9.2024

Dass ihr Kind Kreidezähne hat, macht vielen Eltern Sorgen und wirft Fragen auf. Mir geht es da kein bisschen anders. Um Antworten zu finden, habe ich mit einer Fachfrau gesprochen.

Bei der Zahnkontrolle unserer fünfjährigen Tochter im Frühjahr atmen wir zunächst erleichtert auf. Sie hat keine Karies, also keine Löcher in den Zähnen. Und wie das oft so ist, folgt auf die gute Nachricht sogleich die schlechte: Zoe hat Kreidezähne. Ach herrje, sie also auch. Denn das die Diagnose Kreidezähne bei Kindern auf dem Vormarsch sei, habe ich vor gar nicht allzu langer Zeit gelesen.

Die Tage von Zoes klebrigsüsser Bubble-Gum-Zahnpasta sind damit gezählt. Seit wir von ihren Kreidezähnen wissen, putzen wir sie auf Anraten des Zahnarztes mit einer speziellen Kinderzahnpasta. Diese hat einen erhöhten Fluoridgehalt, um den Zahnschmelz zu stärken. Zusätzlich putzen wir ihre Zähne einmal pro Woche mit einem speziellen Fluoridgel. Auch wenn Zoe das grässlich findet, da müssen wir jetzt gemeinsam durch.

Das Thema Kreidezähne treibt mich seither um. Ich möchte es genauer wissen und mache mich auf die Suche nach einer Fachperson. Über die Schweizerische Vereinigung für Kinderzahnmedizin lande ich bei Eirini Stratigaki. Sie ist Oberärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendzahnmedizin des Universitären Zentrums für Zahnmedizin Basel.

Zur Abwechslung habe ich der Zahnärztin Eirini Stratigaki auf den Zahn gefühlt.
Zur Abwechslung habe ich der Zahnärztin Eirini Stratigaki auf den Zahn gefühlt.
Quelle: Eirini Stratigaki

Was sind eigentlich Kreidezähne?
Eirini Stratigaki: Kreidezähne sind bröckelig wegen eines qualitativen Schmelzdefekts. Der medizinische Begriff dafür lautet Molare-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH). Molare sind die grossen Backenzähne, Inzisiven die Schneidezähne. Betroffene Zähne können verfärbt sein und leichter abbrechen. Sie sind zudem oft sehr empfindlich auf Hitze, Kälte, Süsses oder Berührungen. Genau diese Empfindlichkeit kann dazu führen, dass Kinder Angst vor dem Zahnarztbesuch haben.

Im Milchgebiss unserer Tochter hat es Kreidezähne. Werden ihre bleibenden Zähne nun unweigerlich auch betroffen sein?
Das Risiko besteht zumindest. Milchzähne und bleibende Zähne wachsen nicht alle gleichzeitig. Sind die hinteren Milchbackenzähne von MIH betroffen, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass es auch die ersten bleibenden Backenzähne sein werden, weil sie sich ungefähr zur gleichen Zeit bilden. Studien zufolge beträgt das Risiko dann 50 Prozent. Hat es im Milchgebiss eines Kindes keine Kreidezähne, liegt das Risiko bei etwa 15 Prozent.

MIH-Schneidezähne mit Schmelzabbruch bei einem sechsjährigen Kind.
MIH-Schneidezähne mit Schmelzabbruch bei einem sechsjährigen Kind.
Quelle: Eirini Stratigaki

Wie schlimm ist es denn, Kreidezähne zu haben?
Das ist ganz unterschiedlich. Manche Kinder haben nur leichte Verfärbungen, bei anderen brechen die Zähne schon kurz nach dem Durchbruch ab. Manchmal sind nur die ersten bleibenden Backen- und Schneidezähne betroffen, manchmal aber auch ein paar Milchzähne.

Was ist überhaupt die Ursache für Kreidezähne?
Wie genau Kreidezähne entstehen, ist noch unklar. Fachleute sind sich inzwischen aber einig, dass eine Kombination aus Veranlagung und äusseren Einflüssen für die Entstehung von Kreidezähnen verantwortlich ist. Besonders sensibel sind dabei die letzten Monate der Schwangerschaft und die ersten Lebensjahre des Kindes, wenn die meisten bleibenden Zähne angelegt und ausgebildet werden. Mögliche Risikofaktoren sind unter anderem Komplikationen bei der Geburt, frühkindliche Erkrankungen, Vitamin-D-Mangel oder Schadstoffe in der Umwelt.

MIH-Backenzahn ohne Schmelzabbruch bei einem sechsjährigen Kind.
MIH-Backenzahn ohne Schmelzabbruch bei einem sechsjährigen Kind.
Quelle: Eirini Stratigaki

Was kann ich gegen die Kreidezähne tun?
Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, Kreidezähne zu behandeln, egal ob es sich um Milchzähne oder bleibende Zähne handelt. Die Zahnärztin oder der Zahnarzt erstellt zusammen mit den Eltern und dem Kind einen individuellen Behandlungsplan. Dieser wird auf den Schweregrad der Kreidezähne und das Alter des Kindes abgestimmt. Der Behandlungsplan beinhaltet sowohl kurzfristige Massnahmen zur Schmerzlinderung als auch mittel- und langfristige Strategien, um die Zähne stabil zu halten. Es gibt inzwischen genaue Anleitungen von internationalen Fachgruppen, welche die bestmögliche Behandlung von Kreidezähnen anbieten. Grösste Herausforderung bei der Behandlung ist die Schmerzempfindlichkeit der betroffenen Zähne. Deshalb sind eine frühzeitige Diagnose und eine schonende Behandlung besonders wichtig.

«Zähne putzen, Zähne putzen, muss ein jedes Kind.» Und mit Kreidezähnen umso gründlicher.
«Zähne putzen, Zähne putzen, muss ein jedes Kind.» Und mit Kreidezähnen umso gründlicher.
Quelle: Shutterstock / TinnaPong

Der allgemeine Eindruck ist, dass Kreidezähne in den letzten Jahren stark zugenommen haben. Scheinbar leiden immer mehr Kinder darunter, zum Teil wird die Diagnose sogar als «neue Volkskrankheit» bezeichnet. Stimmt das?
Tatsächlich macht es den Anschein, dass Kreidezähne immer häufiger vorkommen. Das liegt aber wahrscheinlich nicht daran, dass es tatsächlich mehr Fälle gibt, sondern daran, dass wir sie heute besser erkennen.

Können Sie das etwas genauer ausführen?
In Schweden wurden Kreidezähne in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren erstmals genauer untersucht. Zur gleichen Zeit gingen die Kariesfälle zurück, wodurch Kreidezähne in den Vordergrund rückten. So entstand der Eindruck, dass diese Erkrankung zunimmt. Tatsächlich zeigen jedoch archäologische Untersuchungen, dass Kreidezähne wohl schon viel länger existieren. Heute sind wir Zahnärztinnen und Zahnärzte besser darin, Kreidezähne zu erkennen und von Karies zu unterscheiden. Dadurch werden sie häufiger diagnostiziert. Gleichzeitig ist Karies dank besserer Zahnpflege seltener geworden, was Kreidezähne noch mehr in den Vordergrund rückt.

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Ich bin Vollblut-Papi und -Ehemann, Teilzeit-Nerd und -Hühnerbauer, Katzenbändiger und Tierliebhaber. Ich wüsste gerne alles und weiss doch nichts. Können tue ich noch viel weniger, dafür lerne ich täglich etwas Neues dazu. Was mir liegt, ist der Umgang mit Worten, gesprochen und geschrieben. Und das darf ich hier unter Beweis stellen. 


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