
Hintergrund
«Ein gesundes Mass ist besser als rigide Essensregeln»
von Ümit Yoker
Gelegentlich besuchen wir ein wunderliches Städtchen. Den sechsarmigen Schwiegermüttern auf der Strasse schaut dort längst niemand mehr hinterher. Und keiner wundert sich, wenn Mütter unversehens zu Onkeln werden.
Von indischer Mythologie verstehe ich nichts, aber wenn ich in der nordportugiesischen Kleinstadt ankomme, in der mein Mann aufgewachsen ist, sehe ich vor meinem inneren Auge jedes Mal Göttin Kali mit ihren diversen Armen rudern. Das liegt an meiner Schwiegermutter. Wenn sie uns am Garagentor erwartet, stelle ich mir immer vor, dass ihre Schwestern so hinter ihr stünden, dass nur noch deren Arme hervorlugten und es aussähe, als wüchsen der Mutter meines Mannes sechs Arme aus der Seite. Natürlich begrüsst kein Mensch seine Schwiegertochter so, auch im Norden von Portugal nicht. Doch vergeht nach der Ankunft bei meinen Schwiegereltern in der Regel keine Viertelstunde, bis die ersten Verwandten an der Haustüre klingeln - allen voran Tante Paula und Tante Clara.
Ich kann nicht an meine Schwiegermutter denken, ohne ihre Schwestern mitzudenken. Jede lebt nur einen kurzen Spaziergang von der anderen entfernt, die drei Frauen haben ihr Berufsleben in derselben Fabrik verbracht und ständig telefonieren sie miteinander, Himmel, was gibt es denn da immer noch alles zu besprechen? Kommen sie zusammen, ist es wie ein Räderwerk, das ineinandergreift. Eine spült, eine trocknet, eine räumt Geschirr weg. Eine schält, eine schnibbelt, eine brät Kartoffeln. Löffeln zwei von ihnen mit meinen Kinder am Tisch Hühnersuppe, wäscht die dritte Erdbeeren für deren Nachtisch. Mein Mann geht bei seinen Tanten seit jeher so selbstverständlich ein und aus wie bei seinen Eltern; er braucht nicht vorher anzurufen, er klopft noch nicht einmal an. Wie er bewegen sich auch unsere Söhne bei ihren Grosstanten so frei wie bei sich zu Hause, und wenn wir zu meinen Schwiegereltern fahren, besprechen die beiden meist schon auf der Hinfahrt, wo sie denn nun als erstes übernachten wollten: Bei Paula und ihrer Katze? Oder doch bei Clara, wo die Sittiche sind, und man ausserdem manchmal Unkraut jäten darf im Garten? Und dann ist da ja auch noch der Welpe bei Oma.
Es ist aber nicht nur die Mutter meines Mannes, die eine wundersame Wandlung zur portugiesischen Variante von Göttin Kali durchmacht, wenn wir zu Besuch sind. Es vollzieht sich auch an mir Eigentümliches: Denn kaum betrete ich das Elternhaus meines Mannes, gleitet jegliche mütterliche Verantwortung an mir herab wie spärlich bekleideten Frauen im Film der Nerzmantel. Zum Vorschein kommt dann aber keine Mittzwanzigerin im Dessous, sondern ein Onkel. So ein Onkel, wie man sich heute Onkel aus den Fünfzigerjahren vorstellt, einer, der im Ohrensessel sitzt und den Kindern, die an ihm vorbeiwieseln, ab und zu die Wange tätschelt, manchmal einen Neffen auf seinen Schoss hievt, um ihm eine Geschichte vorzulesen, und wenn es irgendwann streng riecht, den Hals nach seiner Frau reckt, duu, ich glaub, der hat was in der Windel. Auf einmal sind mein Mann und ich Gäste in unserer eigenen Kleinfamilie, wir schauen zu, wie unser Grosser seinen Grossvater unnachgiebig am Ärmel zieht, weil er mit ihm Lego spielen will, wir hören interessiert mit, wenn der Jüngere seiner Grossmutter aufgeregt mitteilt, das Bisi komme gleich oder vielleicht sei es auch schon gekommen; irgendwo fällt ein Teller Reis zu Boden, aber da sind auch schon Paula und Clara zur Stelle. Mein Mann und ich lächeln einander an und essen in aller Ruhe weiter zu Abend, zwei Onkel im Urlaub.
Journalistin und Mutter von zwei Söhnen, beides furchtbar gerne. Mit Mann und Kindern 2014 von Zürich nach Lissabon gezogen. Schreibt ihre Texte im Café und findet auch sonst, dass es das Leben ziemlich gut mit ihr meint.<br><a href="http://uemityoker.wordpress.com/" target="_blank">uemityoker.wordpress.com</a>