
Hintergrund
Von Berufs wegen in den Seilen hängen
von Carolin Teufelberger
Der Gotthardpass ist wieder offen. Viele Auto- und Motorradfahrer freuen sich schon seit Monaten darauf. Das tun auch die Männer, die die Strasse vom Schnee befreien. Die Gründe sind aber ganz verschieden.
«Schau dir mal unser Schuhwerk an und dann deines», werde ich morgens um 7 Uhr auf dem Werkhof in Airolo aufgefordert. An den Füssen der Männer in orange sehe ich robuste Wanderschuhe und Gamaschen. Ich traue mich gar nicht, an mir herunterzusehen, denn ich weiss, dass mein Blick auf leichte Vans treffen wird. Die Scham steht mir ins Gesicht geschrieben. Ich bin zwar seit 4 Uhr wach, mein Gehirn jedoch definitiv nicht. Selber schuld, Zeit zum Jammern bleibt keine.
Denn gemeinsam mit einigen Mitarbeitern des Werkhofs geht’s für mich und Video Producer Manuel Wenk hoch auf den Gotthard. Die Strasse muss von Schnee und Eis befreit werden, damit der Pass so bald wie möglich geöffnet werden kann. Auto- und Motorradfahrer sowie die Gastronomie auf dem Berg können es kaum erwarten, bis der Pass nach der alljährlichen Winterpause wieder befahrbar ist. Auch Werner Gnos, Vorarbeiter der Passräumungstruppe, freut sich auf die Eröffnung, aber aus einem anderen Grund. «Der Schnee kann mir erst einmal für eine Weile gestohlen bleiben.» Seit dem 8. April sind er und sein Team dabei, die Passstrasse freizuräumen. Jetzt, Mitte Mai, sind die 12 Männer ganz oben angelangt.
Auf dem Weg dorthin halten wir in einem kleinen Pausenraum am Eingang eines Tunnels. Es gibt Kaffee, Gipfeli und zum Dessert eine Runde Schnupftabak. Knapp 20 Minuten wird gelacht und Sprüche werden geklopft, dann nehmen wir das letzte Stück nach oben in Angriff. Dort angekommen wird’s schnell ungemütlich: -5 Grad reale, -15 Grad gefühlte Temperatur. Der Nebel verschleiert die Sonne noch, der Wind bläst uns um die Ohren. «Hier oben ist das öfter so. Richtig warm wird es selten», sagt Werner. Frieren gehört anscheinend zum Job.
Im Gegensatz zu Werner scheitere ich kläglich beim Versuch, meine Kälteempfindlichkeit zu kaschieren. Meine Zähne klappern und meine Beine schlottern. Ich fühle mich wie in eine andere Welt versetzt: Unten im Tal wollte ich noch im T-Shirt herumlaufen, hier oben fühle ich mich wie auf einer arktischen Expedition – ohne passende Ausrüstung. Trotz der Kälte bin ich von dem Anblick beeindruckt. Die Schneewände, die sich neben mir hochziehen, sind durchschnittlich zwischen sechs und acht Meter hoch, an der höchsten Stelle sogar 13.5 Meter.
Die Strasse dazwischen wurde von drei überdimensionierten Schneefräsen Schicht für Schicht freigelegt. Damit die Männer in den Maschinen wissen, wo geräumt werden muss, markiert Werner zusammen mit einem Arbeitskollegen den Weg. Dafür benutzt er ein GPS-Gerät, das auch für Vermessungen benutzt wird und sprüht die Stelle pink an. Hinterm Steuer der Fräse sitzt Werner äusserst selten. «Ich lasse denen den Vortritt, die den Kick suchen. Ausserdem bin ich der schlechteste Fahrer», sagt er und lacht laut.
Mit Markieren und Fräsen ist die Arbeit auf dem Gotthard aber noch längst nicht getan. «Wir befreien die Strasse von Eis, reinigen sie, setzen die Leitplanken und entfernen lockeres Geröll», erklärt Werner. Das Schönste an seinem Job hat aber mit keiner dieser Aufgaben zu tun. «Ich schätze den Teamzusammenhalt, die Ruhe und die Nähe zur Natur.» Wer sich dem Berg nicht verbunden fühlt, hält es laut Werner in diesem Beruf nicht lange aus.
Klarkommen muss er auch mit der stetigen Frage nach dem Wann. «Dauernd rufen Leute an und fragen nach einem genauen Öffnungsdatum.» Eine definitive Antwort oder gar ein Versprechen bekommen sie von Werner nie. «Ich trage die Verantwortung, wenn etwas passiert, weil wir den Pass zu früh freigeben», sagt er. Lieber höre er sich das ständige Gemecker an, als dieses Risiko einzugehen. «Der Termin wird nun einmal nicht von uns bestimmt, sondern vom Wetter.»
Und das hat ganz schön verrückt gespielt dieses Jahr. «Anfang März habe ich mir das Schneeprofil angeschaut und dachte, dass wir dieses Jahr schnell fertig wären. Doch dann kamen die heftigen Schneefälle und haben alles verändert», erzählt Werner. Nun ist die Equipe verhältnismässig spät dran. Die Masse an Schnee zu bewältigen, braucht Zeit und Einsatz. Abgesehen von fünf Tagen, an denen die Lawinengefahr zu gross war, befindet sich Werner von morgens bis abends in der weissen Landschaft. «Wenn du den ganzen Tag hier oben bist, kommen dir die Farben im Tal viel intensiver vor. Vor allem das Grün des Grases beeindruckt mich jeden Abend aufs Neue.»
Meinen Horizont erweitern: So einfach lässt sich mein Leben zusammenfassen. Ich liebe es, neue Menschen, Gedanken und Lebenswelten kennenzulernen,. Journalistische Abenteuer lauern überall; ob beim Reisen, Lesen, Kochen, Filme schauen oder Heimwerken.