News & Trends

Geständnisse einer Gelobten

Ümit Yoker
20.2.2017

«Du sollst nicht loben», weisen uns Erziehungsexperten neuerdings an - und ergänzen den stattlichen Gebotekatalog für Eltern um eine weitere Direktive. Muss das sein?

Herzliche Gratulation! Du hast hier einen hervorragenden Text vor dir liegen. Da hat sich jemand Sätze ausgedacht, die sitzen. Hier schreibt eine, die schreiben kann, im Ernst jetzt. Das zumindest würde mein Vater jedem versichern, der ihn fragt, er würde dazu einen ernsten Blick aufsetzen und hinzufügen: «Und das sage ich jetzt nicht, weil ich ihr Vater bin.» Süss, nicht?

Mein Vater ist der erste, der meine Artikel auf Facebook teilt. Er hat so ziemlich alles gelesen, was ich je zu Papier gebracht habe, egal, ob es dabei um Frauenrechte in der Türkei oder ein aufgebrochenes Garagentor in Hittnau ging. Natürlich variiert sein Urteil zu meinen Texten, nur: Schlechter als toll fand er bisher noch keinen. Ich finde das rührend. Es ist mir bewusst, dass das grosse, nicht immer ganz objektive Lob bei aller Wertschätzung für meine Arbeit vor allem väterliche Liebe und Stolz ausdrückt. Vor allem aber hat es nie dazu geführt, dass ich meine Fähigkeiten masslos überschätzen würde. Ich lese genügend Beiträge von Kolleginnen und Kollegen, um zu wissen, dass es eine Unmenge von Journalisten gibt, die pointierter, herzzerreissender, schlauer und lustiger schreiben als ich, und für mein Interview mit der Vizepräsidentin der Vereinigung für Kinderzahnmedizin zur Frage, wie man widerspenstigen Kleinkindern am besten die Zähne putzt, gibts vermutlich auch dieses Jahr nicht den Henri-Nannen-Preis.

Deshalb traue ich auch meinen Söhnen zu, dass sie meine Begeisterung für ihre Neocolorkunstwerke dereinst richtig einzuordnen wissen. Aus Erziehungsratgebern jedoch erschallt gerade allenthalben die Warnung, man solle seinen Nachwuchs ja nur mit Bedacht loben. Sonst fehlte es bald an Frustrationstoleranz, sonst stiege der Druck auf sie ins Unermessliche, sonst würden sie bald schwach und abhängig. Ich finde es aber tatsächlich grossartig, wenn mein Grosser blaue Ungetüme aus Lego baut und sie dann «Das Meer» nennt, und ich bin aufrichtig beeindruckt, wenn der Kleine auf einmal beim Memoryspiel abräumt. Und wenn mir die beiden voller Stolz ihre selbstgekneteten Brötchen zeigen und diese aussehen wie Genitalien, werde ich sie nicht zurechtweisen, dass Kleingebäck normalerweise nicht die Form von Penissen hat. Denn es ist ein Wunder, wie diese Kinder zu reden und laufen und malen und tanzen und streiten und scherzen gelernt haben, wie sie sich immer und immer wieder mit Neuem abmühen, an ihren Socken zerrend, Buchstaben schreibend, Treppen erklimmend, und auf einmal geht es ihnen dann ganz leicht von der Hand.

Und man dürfte auch den Eltern etwas mehr zutrauen - gesunden Menschenverstand, zum Beispiel. Die meisten von uns wissen, dass andere Kinder dieselben Entwicklungsschritte machen wie die eigenen, und gehen nicht davon aus, dass ihre Tochter dereinst die Weltherrschaft übernehmen wird, nur weil sie gerade sieben Klötze zu einem Turm gestapelt hat. Ein Wunder bleibt es trotzdem.

Letzte Kolumne von Ümit

  • News & Trends

    Schrumpfende Stuben, zerdehnte Minuten

    von Ümit Yoker

Mehr zu Baby & Kind

  • Hintergrund

    Ein Königreich für Kinder

    von Mona Dolpp

  • Hintergrund

    «Ein Konfibrot ist kein Problem»

    von Ümit Yoker

12 Personen gefällt dieser Artikel


User Avatar
User Avatar

Journalistin und Mutter von zwei Söhnen, beides furchtbar gerne. Mit Mann und Kindern 2014 von Zürich nach Lissabon gezogen. Schreibt ihre Texte im Café und findet auch sonst, dass es das Leben ziemlich gut mit ihr meint.<br><a href="http://uemityoker.wordpress.com/" target="_blank">uemityoker.wordpress.com</a> 


Familie
Folge Themen und erhalte Updates zu deinen Interessen

Kommentare

Avatar